6       Die Bergpredigt (5,1-7,29)

 

6.1    Einführung in die Bergpredigt

 

6.1.1    Die Überlieferung der Bergpredigt

 

Die Bergpredigt des Matthäusevangeliums ist keine wörtliche Mitschrift. Der Evangelist Matthäus war mehr als ein Sekretär oder Stenograph. Das wird vor allem durch einen Blick ins Lukasevangelium deutlich. Dort wird die gleiche Rede in etwas anderer Form überliefert (Lk.6,20-49).

 

Wenn wir diese beiden Fassungen miteinander vergleichen, werden unterschiedliche Akzentsetzungen sichtbar. Während beispielsweise bei Matthäus die „Armen im Geist“ selig gesprochen werden (Mt.5,3), sind es bei Lukas die Armen im wörtlichen Sinn (Lk.6,20b).

 

Außerdem sind die beiden Reden unterschiedlich lang. Der Text des Evangelisten Lukas ist deutlich kürzer. Alles, was er in seiner „Feldrede  berichtet,  findet sich auch in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums. Andererseits stoßen wir in der Bergpredigt auf Aussagen Jesu, die Lukas an anderer Stelle, außerhalb der Feldrede, eingeordnet  hat (z.B. das Vaterunser: Mt.6,9-15; Lk.11,2-4). Außerdem gibt es in der Bergpredigt einige Passagen, die im Lukasevangelium völlig fehlen (z.B. Vom Schwören: Mt.5,33-37). Die folgende Tabelle kann das verdeutlichen:

 

Jesuswort

Matthäus

Lukas

Bergredigt/Feldrede

5-7

6,20-7,1a

Einleitung

5,1-2

6,12.20

Seligpreisungen

5,3-12

6,20-23

Salz der Erde/Licht der Welt

5,17-20

14,34-35; 11,33

Jesu Stellung zum Gesetz

5,17-20

16,17

Töten

5,21-26

12,57-59

Ehebruch

5,27-30

-

Ehescheidung

5,31-32

16,18

Schwören

5,33-37

-

Wiedervergeltung

5,38-42

6,29-30

Feindesliebe

5,43-48

6,27-28. 32-36

Almosengeben

6,1-4

-

Beten

6,5-8

-

Vaterunser

6,9-15

11,2-4

Fasten

6,16-18

-

Warnung vor Habsucht

6,19-21

12,33-34

Gleichnis vom Auge

6,22-23

11,34-36

Gott und Mammon

6,24

16,13

Irdische Sorgen

6,25-34

12,22-32

Richten und Entweihung des Heiligen

7,1-6

6,37-38.41.42

Gebetserhörung

7,7-11

11,9-13

Goldene Regel

7,12

6,31

Schmaler und breiter Weg

7,13-14

13,23-24

Rechte Frömmigkeit

7,15-20

6,43-45

Warnung vor Selbsttäuschung

7,21-23

6,46; 13,26-27

Gleichnis vom Haus auf dem Felsen

7,24-27

6,47-49

Die Wirkung der Bergpredigt

7,28-29

7,1a

 

Man nimmt im Allgemeinen folgende Entstehungsgeschichte des Matthäus- und des Lukasevangeliums an: Als Matthäus und Lukas ihre Evangelien schrieben, lag ihnen bereits das Markusevangelium vor. Außerdem gab es eine Quelle mit Reden Jesu, die nicht im Markusevangelium überliefert sind. Sowohl Matthäus als auch Lukas haben diese Rede-Quelle (von der Wissenschaft schlicht „Q“ genannt) gekannt und ihr Material an den Stellen in ihr Evangelium eingebaut, wo es ihrer Auffassung nach am passendsten war. Dabei entstand bei Matthäus eine längere Fassung der Bergpredigt. Hinzu kam bei beiden sog. „Sondergut“ - Berichte, die sich nur bei Matthäus oder nur bei Lukas finden. In Bezug auf die Bergpredigt bietet nur Matthäus „Sondergut“ (z.B. Vom Schwören: Mt.5,33-37). Aber auch das Lukasevangelium enthält an anderer Stelle Material, das sich in keinem anderen Evangelium findet (z.B. Gleichnisse vom verlorenen Schaf, Groschen und Sohn: Lk.15).

 

Danach kann man die Entstehung des Matthäus- und Lukasevangeliums in folgender Graphik zusammenfassen:

 

                     Markusevangelium       Rede-Quelle

 

Sondergut Matthäus                                          Sondergut Lukas

 

    Matthäusevangelium          Lukasevangelium

 

Lukas selbst schildert die Entstehungsgeschichte seines Evangeliums so: „Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. So habe auch ich´s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfahrest, in der du unterrichtet bist“ (Lk.1,1-4). Am Anfang standen die Schilderungen der Augenzeugen. Dann sind verschiedene (schriftliche) Berichte entstanden. Schließlich ist Lukas allem noch einmal selbst nachgegangen und  hat alles in „guter Ordnung“ zusammengestellt. Nicht anders wird es auch Matthäus getan haben.

 

Für die Bergpredigt folgt daraus: Weder der Bericht des Matthäus, noch der des Lukas, sind ein stenographisches Protokoll der Bergpredigt. Das mag uns vielleicht zunächst enttäuschen. Allerdings: Auch wenn wir kein stenographisches Protokoll besitzen, sollten wir daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Bergpredigt einfach der Phantasie des Matthäus entsprungen ist. Matthäus hat die Arbeit eines Redakteurs getan: Er hat das Material gesammelt, geordnet und für seine Leser zubereitet. Gehalten hat die Bergpredigt jedoch kein anderer als Jesus. Es sind seine Ideen.

 

 

6.1.2    Die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Bergpredigt

 

Wenn wir uns heute mit der Bergpredigt beschäftigen, so stehen wir damit in einer langen Kette gläubiger Christen, die sich ebenfalls mit dieser Rede Jesu auseinandergesetzt haben. Ihre Einsichten können uns helfen, die Bergpredigt zu verstehen und in unsere Zeit zu übertragen. Dazu gehört auch, dass die Auslegungsgeschichte der Bergpredigt uns auf Probleme aufmerksam macht, die diese Rede Jesu der Christenheit immer  wieder bereitet hat.

 

In der nachapostolischen Zeit (2. Jh. n.Chr.) bezieht man sich in ethischen Fragen vor allem auf die Bergpredigt. Allerdings bemerkt bereits die Didache – eine Anfang des 2. Jahrhunderts in Syrien verfasste christliche Schrift – , dass ihre Forderungen nicht von allen Gemeindegliedern erfüllt werden könnten. Daher unterscheidet sie zwischen vollkommenen Christen und denen, die so viel halten, wie sie können: „Wenn du … das ganze Joch des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein; wenn du es aber nicht kannst, tu das, was du kannst“ (Did.6,2).

 

Diese Unterscheidung führt schließlich zur mittelalterlichen Zwei-Stufen-Ethik: Neben den Geboten, die für alle Gläubige gelten, gibt es auch Forderungen, die sich nur an eine begrenzte Gruppe von Christen richten – an das Mönchtum, den Stand der Vollkommenheit. Zu diesen besonderen Forderungen zählen z.B. die Aussagen Jesu über den Umgang mit dem Besitz.

 

Auf der anderen Seite standen kirchliche Reformbewegungen und Sekten. Sie bemühten sich darum, die Bergpredigt auf das Alltagsleben anzuwenden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Täuferbewegung der Reformationszeit. Unter Berufung auf die Bergpredigt lehnte man Krieg, weltliche Gerichtsbarkeit, Eid und Ausübung staatlicher Ämter ab und praktizierte Gütergemeinschaft.

 

LUTHER hat in seinen Schriften oft auf die Bergpredigt Bezug genommen. Er sah in ihr jedoch vor allem einen „Sündenspiegel“: Die Bergpredigt enthüllt, dass der Mensch dem Gericht Gottes verfallen ist, und treibt ihn in die Arme des Evangeliums, zur Erlösung in Christus allein durch den Glauben.

 

In Bezug auf die praktische Umsetzung der Bergpredigt hat Martin Luther sowohl die Zwei-Stufen-Ethik als auch den Versuch einer buchstäblichen Anwendung durch die Täufer zurückgewiesen. Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen ist seine Zwei-Reiche-Lehre. Danach ist der Christ zugleich Bürger des Reiches Gottes als auch der Welt. In jedem dieser Bereiche gelten seiner Auffassung nach andere Gesetze. Daher konnte er formulieren:

„Ein Fürst kan wol ein Christen sein, aber als ein Christ mus er nicht regieren: und nach dem er regiret, heisst er nicht ein Christ sondern ein Fürst. Die person ist wol ein Christ, aber das ampt odder Furstenthumb gehet sein Christentum nicht an, Denn nach dem er ein Christ ist, leret jn das Euangelium das er niemand sol leid thun, nicht straffen noch rechen, sondern idermann vergeben, und was jum leid odder unrecht geschicht sol er leiden. Das ist (sage ich) eines Christen lectio, Aber das wurde nicht ein gut regiment machen, wenn du dem Fursten woltest also predigen, Sondern so mus er sagen: Meinen Christen stand lasse ich gehen zwischen Gott und mir, das habe sein bescheid wie ich gegen jm leben sol, Aber uber odder neben dem habe ich jnn der Welt einen andern stand oder ampt: das ich ein Fürst bin. Die person gehet nicht gegen Gott sondern zwisschen mir und meinen land und leuten. Da gehört nicht her wie du gegen Gott leben und was du fur dich thun und leiden solt, das las fur deine Christen person gehen, als di nichts mit landen und leuten zuthun hat, Aber deine fürstliche Person sol der keines thun noch damit zuschaffen haben, Sondern dencken wie sie das regiment handhabe, recht und friden halte und schutze, die bösen straffe.“ (WA 32, 440, 9ff.)

 

Die Bergpredigt würde demnach also nur für die persönliche Beziehung des Christen zu Gott gelten. Wenn er jedoch in die Welt hinaustritt und dort seine Aufgaben zu erfüllen hat, untersteht er anderen Gesetzen. Diese Auffassung findet bis in die Gegenwart zahlreiche Anhänger. Auf dem evangelischen Kirchentag hat Helmut Schmdit ein altes Bismark-Wort aufgegriffen und behauptet: „Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren!“

 

Es ergeben sich jedoch grundsätzlich Anfragen an die Zwei-Reiche-Lehre. Zunächst: Kann man das Leben wirklich in zwei Bereiche aufteilen? Und schließlich: Werden die Forderungen der Bergpredigt dadurch nicht praktisch bedeutungslos?

 

Aber auch der Reformation wurden immer wieder Versuche unternommen, die Forderungen der Bergpredigt buchstäblich umzusetzen. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Quäker zu nennen. Sie praktizierten einen einfachen Lebensstil und lehnten Eid und Kriegsdienst ab. In Pennsylvania richteten sie ein Staatswesen nach ihren eigenen Vorstellungen auf. Es gelang ihnen, mit den Indianern ohne Blutvergießen auszukommen und Gericht und Zwang zugunsten brüderlicher Schlichtungsversuche einzuschränken. Sie scheiterten jedoch am Kriegsproblem. Zur Kriegsteilnahme gedrängt, zogen sich die Quäker aus der Volksvertretung in die rein gemeindliche Existenz zurück.

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat Leo Tolstoi für eine direkte Anwendung der Bergpredigt ein. Er forderte daher die Aufhebung der Gerichte, des Eides, des Wehrdienstes, der Steuern, des Staates und des Eigentums.

 

Albert Schweitzer versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ herauszuarbeiten, dass die Bergpredigt mit der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Reiches Gottes verbunden ist. Jesus habe das Reich Gottes zu seinen Lebzeiten erwartet und daher zu besonderen Anstrengungen aufgerufen. Für das alltägliche Leben aber sei die Bergpredigt nie gedacht gewesen.

 

Demgegenüber hat Dietrich Bonhoeffer die Bergpredigt Jesu nicht so sehr von dessen Erwartung des Reiches Gottes, als vielmehr auf dem Hintergrund seines Aufrufs zur Nachfolge verstanden. Im Mittelpunkt der Bergpredigt stehe daher nicht ein Gesetz, sondern eine Person. Der Christ sei aufgerufen, den Weg Jesu zu gehen. Auf diese Weise bemüht sich BONHOEFFER um eine Alternative zur buchstäblich-gesetzlichen Auslegung der Bergpredigt, die gleichzeitig jedoch die Radikalität der Bergpredigt bewahrt.

 

Auch gesellschaftliche Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts haben sich auf die Bergpredigt berufen. Dabei ging es ihnen z.T. nicht um eine buchstäbliche, sondern eher um eine sinngemäße Umsetzung. Zu diesen Bewegungen gehört der religiöse Sozialismus (vor allem Leonhard Ragaz), die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings und die Friedensbewegung der 80er Jahre.

 

Gerhard Barth fasst die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Bergpredigt daher folgendermaßen zusammen: „Durch die Radikalität ihrer Forderungen führte die Bergpredigt immer  wieder zum Protest gegen die Verweltlichung der Kirche und gegen die Kritiklosigkeit, mit der Motive, Normen und Verhaltensweisen der Umwelt von der Christenheit übernommen und bejaht wurden. Zugleich führte ihre Radikalität zu der ständigen Frage, wie diese Forderungen zu verstehen seien, wem und für welche Bereiche sie gelten sollen, zur Frage nach ihrer Erfüllbarkeit und Praktikabilität.“(G. Barth, Bergpredigt im Neuen Testament).

 

 

6.1.3    Kontext und Adressaten der Bergpredigt

 

Jesu öffentliches Wirken beginnt nach der Gefangennahme Johannes des Täufers. Er fängt an zu predigen. Der Inhalt seiner Predigten  ist immer der gleiche: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Mt.4,17). „Buße“ – das heißt Umkehr, Sinnesänderung. Der Grund für die geforderte Umkehr ist das Reich Gottes, Gottes neue Welt, eine Welt, in der Leid und Tod endgültig überwunden und die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen wieder hergestellt ist (Off.21,1-7). 

 

Gewiss ist das Reich Gottes noch eine zukünftige Größe. Schließlich heißt es im  „Vaterunser“: „Dein Reich komme!“ (Mt.6,10). Aber diese Zukunft ragt bereits in die Gegenwart hinein. In Jesus Christus ist das Reich Gottes schon da. Er sagt: „Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk.11,20). Und: „Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man´s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk.17,20.21). Weil das Reich Gottes vor der Tür steht, ist jetzt die Zeit der Umkehr.

 

Diese Predigt zeigt Wirkung. Jesus beruft seine Jünger (Mt.4,18-22). Die lassen alles stehen und liegen und folgen dem Wanderprediger Jesus von Nazareth. Der verkündigt seine Botschaft vom Reich Gottes in den Synagogen Galiläas und heilt die Kranken (Mt.4,23). Das spricht sich wie ein Lauffeuer herum (Mt.4,24). Und so macht sich eine große Menschenmenge auf den Weg zu Jesus (Mt.4,25).

 

Als Jesus die Menschenmenge sieht, steigt er auf einen Berg und beginnt zu predigen - die Bergpredigt. Nachdem er in kürzester Zeit so viel angestoßen hat, muss er nun seine Absichten deutlich machen. Was will er? Was meint er, wenn er vom Reich Gottes spricht? Die Bergpredigt ist deshalb so etwas wie eine Grundsatzerklärung. Jesus stellt sein „Programm“ vor. Dass Jesus dabei auf einem Berg steht, erinnert an die Offenbarung der Zehn Gebote am Berg Sinai. Jesus ist der neue Mose. Bereits Mose hatte prophezeit: „Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen“ (5.Mose 18,15). Jesus offenbart den Willen Gottes.

 

Wem gilt die Bergpredigt? Diese Frage hat in der Geschichte ihrer Auslegung eine entscheidende Rolle gespielt. Die einen sehen in ihr eine Unterweisung für Nachfolger Jesu an seine Jünger. Und tatsächlich beziehen sich einige Aussagen speziell auf die Situation der Jünger (z.B. die Seligpreisung derjenigen, die aufgrund ihres Glaubens an Jesus verfolgt werden, Mt.5,11.12). Andere zählen die Bergpredigt zu den großen Utopien der Menschheit und betonen, dass sie für alle Menschen gilt.

 

Was sagt der biblische Bericht selbst dazu? Als Jesus diese Menschenmenge sieht, steigt er auf eine Anhöhe (Mt.5,1) – nicht um vor dem Volk zu fliehen, sondern um besser gehört und gesehen zu werden. Schließlich endet die Bergpredigt mit den Worten: „Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre“ (Mt.7,28). Also muss das Volk diese Rede gehört haben. Allerdings befinden sich die Jünger während dieser Rede in besonderer Nähe zu Jesus (Mt.5,1, letzter Teil).

 

Wem also gilt die Bergpredigt? Alle sollen seine Botschaft hören. An einigen Stellen hat Jesus jedoch vor allem seine Jünger im Blick - und auch alle anderen, die sich bereits ganz für Jesus entschieden haben.

 

 

6.1.4    Die Gliederung der Bergpredigt

 

Die Bergpredigt beginnt mit nicht mit Geboten, sondern mit Seligpreisungen (5,3-12). Sie machen deutlich, dass im Reich Gottes der Ehrliche nicht länger der Dumme und der Schwache nicht länger der Verlierer ist. Im Gegenteil: Die Nachfolger Jesu sind in Wahrheit unverzichtbar (5,13-16).

 

Im Anschluss an diese Zusagen und Verheißungen beginnt der Hauptteil der Bergpredigt, in dem er das Gesetz und die Propheten auslegt (5,17-7,12). Er beschreibt seine Beziehung zum Gesetz und fordert eine „bessere Gerechtigkeit“ (5,17-20). Diese „bessere Gerechtigkeit“ wird in sechs Antithesen entfaltet (5,21-48). Zugleich lehnt Jesus alle fromme Zurschaustellung ab (6,1-8.16-18). Weil dies auch für das Gebet gilt, schildert Jesus im Vaterunser  was echtes Beten ist (6,9-13). Es folgen Anweisungen zum rechten Umgang und zur rechten Einstellung gegenüber materiellen Dingen (6,19-34).  Das Verbot des Richtens knüpft noch einmal an die radikalen Forderungen der Antithesen an (7,1-6). Mit dem Hinweis auf die Gewissheit der Gebetserhörung (7,7-11) schließt der Hauptteil der Bergpredigt ab, der mit der „Goldenen Regel“ noch einmal zusammengefasst wird (7,12).

 

Der Schlussteil beginnt mit der Mahnung, die Weisungen der Bergpredigt zu befolgen und sich nicht durch falsche Propheten von diesem Weg abbringen zu lassen (7,13-23). Anschließend verdeutlicht das Gleichnis vom Hausbau den Segen, der auf einem Leben nach dem Willen Gottes liegt (7,24-27).

 

 

Abkürzungsverzeichnis

 

EB                   Elberfelder Bibel

LB                   Luther-Bibel

ThWNT          Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament

TRE                Theologische Realenzyklopädie

 

 

 

Literaturverzeichnis

 

Aukrust, Tor.  „Bergpredigt ethisch“.  TRE  3, 618-626. 

 

Barth, Gerhard.  „Bergpredigt im Neuen Testament“.  TRE  3, 603-618.

 

Bonhoeffer, Dietrich.  Nachfolge. München 198817.

 

Grundmann, Walter. Das Evangelium nach Matthäus. ThHNK 1. Berlin 19866.

 

Joachim Gnilka. Das Matthäusevangelium. Erster Teil. Freiburg 1986.

 

Kippenberg, Hans. G./Wewers, Gerd A. Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte.  Göttingen 1979.

 

Lapide, Pinchas.  Die Bergpredigt – Utopie oder Programm?.  Mainz 19822.

 

Lips, Hermann von.  „Schweine füttert man, Hunde nicht – ein Versuch, das Rätsel von Matthäus 7,6 zu lösen“.  ZNW 79 (1988), 165-186.

 

Luz, Ulrich.  Das Evangelium nach Matthäus.  EKK 1/1. Neukirchen-Vluyn 19892 .  

 

Ragaz, Leonhard.  Die Bergpredigt Jesu. Gütersloh 19833

 

Schnelle, Udo: Neutestamentliche Anthropologie. Neukirchen, 1991.

 

Strack, Hermann/ Billerbeck, Paul. Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch. Das Evangelium nach Matthäus. München 199410. [Abk.: StrBill].

 

Strecker, Georg.  Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar.  Göttingen 19852.

 

 

6.2    Die Seligpreisungen (5,1-12)

 

(5, 1)   Als er aber das Volk sah,

ging er auf einen Berg und setzte sich;

und seine Jünger traten zu ihm.
(5,2)    Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
(5,3)    Selig sind, die da geistlich arm sind;

denn ihrer ist das Himmelreich.

(5,4)    Selig sind, die da Leid tragen;

denn sie sollen getröstet werden.

(5,5)    Selig sind die Sanftmütigen;

denn sie werden das Erdreich besitzen.

(5,6)    Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit;

denn sie sollen satt werden.

(5,7)    Selig sind die Barmherzigen;

denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

(5,8)    Selig sind, die reinen Herzens sind;

denn sie werden Gott schauen.

(5,9)    Selig sind die Friedfertigen;

            denn sie werden Gottes Kinder heißen.

(5,10)  Selig sind, die  um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;

denn ihrer ist das Himmelreich.

(5,11)  Selig seid ihr,

wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen

und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.

(5,12)  Seid fröhlich und getrost;

es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.

Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

 

(1-2) Zur Einleitung der Bergpredigt bzw. zu den Adressaten vgl. 6.1.3.

 

(3-12) Jesus beginnt seine Rede mit den „Seligpreisungen“. Die ersten acht Seligpreisungen sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Lediglich die Neunte fällt etwas aus dem Rahmen.

 

Das Wort „selig“ hat durch die Jahrhunderte einen verstaubt-kirchlichen Klang bekommen. Wir denken vielleicht an die „selige Jungfrau Maria“ oder die Seligsprechung außergewöhnlicher Menschen. Man sollte daher heute vielleicht besser übersetzen: „Glücklich zu preisen sind ...“ Oder wie die moderne Übertragung „Die gute Nachricht“ es wiedergibt: „Freuen dürfen sich alle ...“. Die Seligpreisungen beschreiben die Freude, „die dem Menschen aus dem Teilhaben am Heil des Reiches Gottes erwächst“. (ThWNT IV, 369f.)

 

 

Dann wird in jeder Seligpreisung ein bestimmter Personenkreis genannt. Dabei handelt es sich nicht um die Starken und Erfolgreichen, sondern um die Schwachen, Verachteten und Aufrichtigen – also diejenigen, die leicht unter die Räder kommen. Sie haben angesichts des nahenden Reiches Gottes Grund zur Freude.

 

Warum das so ist, wird im letzten Teil des Satzes mitgeteilt. Jesus offenbart den einzelnen Personengruppen, welche Verheißung gerade für sie im zukünftigen Reich Gottes liegt. Die Gegenwart mag bedrückend sein. Aber im Reich Gottes werden die jetzigen Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Deshalb ist schon jetzt Freude möglich.

 

Bereits durch den Aufbau der Seligpreisungen wird also deutlich, dass die Seligpreisungen kein Gesetz und auch keine Eintrittsforderung für das Reich Gottes sein wollen. Im Gegenteil: Diejenigen, die einen schweren Weg gehen, werden aufgerichtet. Ihnen wird das Heil zugesagt.

 

(3) „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich“. Wie bereits erwähnt, ist in der Feldrede des Lukasevangeliums von den Armen im wörtlichen Sinn die Rede: „Selig seid ihr Armen … Weh euch Reichen!“ (Lk.6,20b.24a). Schon das Alte Testament schildert Gott als den Helfer der Armen: „Wer ist wie der HERR, unser Gott, im Himmel und auf Erden? Der oben thront in der Höhe, der herniederschaut in die Tiefe, der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz“ (Ps.113,5-7). Oft waren die Armen der Willkür der Reichen und Mächtigen schutzlos ausgeliefert. Dann war Gott ihre einzige Hoffnung. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten: „Ich … bin elend und arm; Gott eile zu mir! Du bist mein Helfer und Erretter; HERR, säume nicht!“ (Ps.70,6). Weil sie nicht auf ihre eigene Kraft bauen konnten, führte sie ihre Armut in eine intensive Gottesbeziehung hinein. Aus diesem Grunde wurde „Armut“ schließlich auch zu einem Begriff mit geistlicher Bedeutung. Die Qumran-Gemeinschaft sprach von den „Armen des Geistes“ und meinte damit Menschen, die alles von Gott erwarten. In diesem Sinne wird der Begriff auch in der Bergpredigt benutzt.

 

Wörtlich übersetzt heißt es bei Matthäus: „Glücklich zu preisen die Armen im Geist“. Welcher Geist ist hier gemeint? Wohl kaum der Geist Gottes, der Heilige Geist. Arm an Heiligem Geist zu sein kann kein Grund zur Freude sein. Es geht also um den Geist des Menschen. Er ist der Sitz von Einsicht, Gefühl und Wollen und somit Träger des menschlichen Innenlebens. In diesem Sinn gebraucht Jesus diesen Begriff, als er seinen Jüngern im Garten Gethsemane zuruft: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“ (Mt.26,41). Wer arm im Geist ist, kann seinem Leben aus sich selbst heraus nicht die richtige Richtung geben und steht als Bettler vor Gott. Die erste Seligpreisung richtet sich also an Menschen, die ihr eigenes Unvermögen kennen und deshalb alles von Gott erwarten.

 

Ihnen gegenüber stehen die „reichen“ Pharisäer, von denen Jesus sagt: „Alle ihre Werke ... tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß. Sie sitzen gern obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben's gern, dass sie auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt werden“ (Mt.23,5-7). Mit ihnen steht Jesus auf Kriegsfuß. Denen aber, die um ihre eigene Schwachheit wissen, steht das Reich Gottes offen.

 

Vor Gott muss niemand versuchen, etwas darzustellen, das er gar nicht ist. Wir müssen unserem Leben nicht selbst einen Sinn verleihen. Gott nimmt uns so an wie wir sind. Und das ist befreiend. „Selig sind, die da geistlich arm sind …“ – das ist daher die Basisformel der Erlösung.

 

(4) „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“. Dieses Wort erinnert an eine Verheißung aus dem 61. Kapitel des Jesajabuches. Dort kündigt Gott durch seinen Propheten einen neuen Anfang an, „… ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Vergeltung unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden“ (Jes.61,2). Damals geht es vor allem um die Trauer um das geschundene Jerusalem (Jes.61,3-7). Die Bergpredigt nennt keinen speziellen Grund für die Trauer. Es ist aber möglich, dass nicht nur individuelles Leid, sondern auch das Leiden an dieser zerbrochenen Welt gemeint ist.

 

Die Trauernden dürfen sich freuen. Sie sollen getröstet werden. In der Offenbarung des Johannes heißt es von Gottes neuer Welt: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Off.21,4). Tod, Leid, Geschrei und Schmerz sind nicht das letzte Wort. Gott hat das letzte Wort. Unser Leben endet nicht im Nichts. Gott macht alles neu.

 

(5) „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen“. Hintergrund dieser Seligpreisung ist das Wort aus Psalm 37,11: „Aber die Elenden werden das Land erben …“ In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die in der Urgemeinde benutzt wurde, wird an dieser Stelle nicht von den Elenden, sondern den Sanftmütigen gesprochen. Was aber ist „Sanftmut“? Das wird vor allem an Jesus selbst deutlich. Er sagt von sich: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Mt.11,29.30). Sanftmütig zu sein bedeutet also, anderen Menschen gegenüber Freundlichkeit und Milde walten zu lassen und ihnen keine Lasten aufzuladen.

 

Denen, die wie Jesus sanftmütig sind, wird das Erdreich gehören. Gemeint ist die neue Erde, von der es in der Offenbarung des Johannes heißt: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr“ (Off.21,1). „In jedem Wort, in jeder Gebärde wird es offenbar, dass sie [die Sanftmütigen] nicht auf diese Erde gehören. Lasst ihnen den Himmel, sagt die Welt mitleidig, da gehören sie hin. Aber Jesus sagt: Sie sollen das Erdreich besitzen. Diesen Rechtlosen und Ohnmächtigen gehört die Erde. Die sie jetzt besitzen mit Gewalt und Unrecht, sollen sie verlieren, und die hier ganz auf sie Verzicht geleistet haben, die sanftmütig waren bis zum Kreuz, sollen die neue Erde beherrschen.“ (Bonhoeffer, Nachfolge, 84).

 

(6) „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“. Bei Lukas heißt es einfach: „Selig seid ihr, wenn ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden“ (Lk.6,21). In der Bergpredigt aber geht es um den Hunger nach Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit“ ist ein Schlüsselbegriff des Matthäusevangeliums (vgl. Mt. 5,10; 5,20; 6,1; 21,32). Was bedeutet dieser Begriff? Im weiteren Verlauf der Bergpredigt wird Jesus davor warnen, die Gerechtigkeit (Luther: „Frömmigkeit“) vor den Leuten „zu üben“, um auf diese Weise Ansehen zu erlangen (6,1). Gerechtigkeit meint also ein bestimmtes Verhalten des Menschen. Angesprochen sind daher diejenigen, die sich um ein gerechtes Handeln bemühen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich im Buch der Sprüche: „Wer der Gerechtigkeit und der Güte nachjagt, der findet Leben und Ehre“ (Spr.21,21).

 

Der Nachsatz bleibt im Bild vom Hunger und Durst und richtet den Blick auf das Festmahl im Reich Gottes (Mt.22,1-10). Daran werden alle teilnehmen, die sich um Gerechtigkeit bemüht haben (Mt.22,11-14; 25,34-40).

 

(7) „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“. Die Barmherzigkeit ist der Inbegriff der Liebeswerke, das Wichtigste im Gesetz (Mt.9,13; 12,7; 23,23). Welche Werke sind gemeint? „… Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt.25,35.36).

 

Wer so handelt wird einmal selbst Barmherzigkeit erlangen. Damit ist das zukünftige Weltgericht angesprochen. Der Apostel Jakobus schreibt: „Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht“ (Jak.2,13).

 

(8) „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“. Bei „Herz“ denken wir automatisch an „Gefühl“. Im biblischen Sprachgebrauch bedeutet es jedoch mehr. Es bezeichnet das „Innere des Menschen, den Sitz von Verstand, Gefühl und Willen, den Ort, wo die Entscheidungen des Lebens wirklich fallen“ (Schnelle, 122; vgl. Mt.9,4; 12,35; Röm.1,24; 1.Kor.4,5). Der Psalmist fragt: „Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört" (Ps.24,3.4). Ein reines Herz ist also ein Herz ohne böse Absichten. In der Bergpredigt nennt Jesus ein zeitlos aktuelles Beispiel für ein „unreines Herz“: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (Mt.5,28).

 

Wer ein reines Herz hat, wird Gott schauen. Gemeint ist die Begegnung mit Gott in dessen neuer Welt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1.Kor.13,12). „Und er (Gott) wird bei ihnen wohnen ...“ (Offb.21,4).

 

(9) „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Für die Bibel ist Friede mehr als die Abwesenheit von Krieg. Er ist eine „heilvolle Ordnung“, in der „Güte und Treue einander begegnen; Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Ps.85,11). Ein solcher Friede braucht Menschen, die für ihn eintreten. Das griechische Wort, dass Luther mit „die Friedfertigen“ übersetzt hat, meint nicht einfach nur Menschen, die niemandem etwas zuleide tun, sondern solche, „die sich, ohne eignes Interesse, gleichsam zwischen das Feuer zweier sich bekämpfender Parteien stellen und Frieden zu stiften suchen“ (ThWNT II, 418; vgl. Jak.3,13-18; Mt.5,44.45). Sie werden in der neuen Welt Söhne Gottes sein: „Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein“ (Offb.21,7).

 

(10) „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich“. Wie in der vierten Seligpreisung (Mt.5,6) geht es um Menschen, die sich darum bemühen, ein Leben nach dem Maßstab der Gerechtigkeit zu führen. Nun aber werden diejenigen unter ihnen besonders angesprochen, die gerade aufgrund ihres Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden in Schwierigkeiten geraten und verfolgt werden.

 

Deshalb ist es so wichtig für sie zu wissen, dass Gottes Reich ihnen offen steht. Der Apostel Petrus drückt das so aus: „Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig ... Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen“ (1.Petr.3,14.17).

 

(11.12) In der letzten Seligpreisung wechselt die Anrede. Jetzt heißt es nicht mehr „Selig sind …“, sondern „Selig seid ihr …“ Jesus spricht also einige seiner Zuhörer ganz direkt und persönlich an. Es sind diejenigen, die an Jesus Christus glauben und aus diesem Grund diskriminiert werden: „Selig seid ihr, wenn euch die Leute um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen“. Lukas spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Nachfolger Jesu „ausgestoßen“ werden (Lk.6,22). Gemeint ist ihr Ausschluss aus der jüdischen Synagoge. (Strecker, 46). Die Matthäusversion ist jedoch allgemeiner gefasst. Es geht um alle Erfahrungen der Verfolgung und Diskriminierung.

 

Jesus ruft die um ihres Glaubens willen Verfolgten ausdrücklich dazu auf, sich zu freuen: „Seid fröhlich und getrost (wörtl.: jubelt)“. Warum sollen sie sich freuen? Weil im Reich Gottes eine große Belohnung auf sie wartet: „Es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden“. (1) Dessen können sie ganz sicher sein, weil sie mit ihrem Schicksal in der „Tradition“ der alttestamentlichen Propheten stehen: „Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind" (z.B. 1.Kön.19; Jer.37,11-16).

 

Zusammenfassung:  Weil im kommenden Reich Gottes alles anders wird, haben die Schwachen, die Verachteten, die Aufrichtigen und die Menschen der praktischen Nächstenliebe schon heute Grund zur Freude.

 

1 Die Vorstellung einer ungleichen Belohnung der Gläubigen findet sich bei Matthäus jedoch nicht (vgl. Mt.20,1-16).

 

 

 

6.3    Die Nachfolger Jesu als Salz und Licht (5,13-16)

 

(5,13) Ihr  seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.

(5,14) Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. (5,15)  Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. (5,16)  So lasst  euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

 

Die Menschen, die Jesus in seinen Seligpreisungen angesprochen hat, gehören in der Regel nicht zu denen, die in der Gesellschaft den Ton angeben. Sie empfinden sich eher als Außenseiter. Aus diesem Grund ziehen sie sich gern in ihr Schneckenhaus zurück. Deshalb betont Jesus in zwei kurzen Bildworten, wie unverzichtbar Nachfolger Jesu für die Gesellschaft sind und ermutigt sie, dort Verantwortung zu übernehmen.

 

(13) „Ihr seid das Salz der Erde.“ Das Salz hat viele Funktionen. Es kann als Gewürz, als Streumittel oder zur Konservierung dienen. Welche Funktion des Salzes meint Jesus? Das wird im nächsten Satz deutlich: „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?“ Dieses Jesuswort wird in der Parallelstelle im Lukasevangelium so wiedergegeben: „Wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit soll man würzen? (Lk.14,34)“. (1) Es geht also um die Würzkraft des Salzes.

 

Nun kann das Salz seine Würzkraft offensichtlich auch verlieren. In Palästina wurde vor allem Salz benutzt, das aus dem Toten Meer gewonnen worden war. Dieses Salz enthielt viele Beimischungen und bestand nur etwa zu einem Drittel aus Kochsalz. Diese Beimischungen waren nicht so beständig wie das reine Kochsalz. Wenn das Salz bei der Lagerung feucht wurde, konnten diese leichter zerfallbaren Bestandteile den Geschmack des Salzes verändern. Dadurch wurde es unbrauchbar. Es musste weggeschüttet werden und wurde von den Leuten zertreten.

 

Inwiefern sind die Nachfolger Jesu das Salz der Erde? Sie sind es einfach dadurch, dass sie sind was sie sind: Menschen, die an Jesus Christus glauben, seinen Weg gehen und die Bergpredigt leben. Auf diese Weise leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag für die Gesellschaft. Wenn sie jedoch den Weg der Nachfolge verlassen und ihre Würzkraft verlieren, sind sie nicht mehr zu gebrauchen. Ein angepasstes Christentum gehört auf den „Müllhaufen der Geschichte“. Es kann weggeschüttet und von den Leuten achtlos zertreten werden. (2)

 

(14a) Dann fügt Jesus ein zweites Bild hinzu: „Ihr seid das Licht der Welt.“ Dieses Bild findet sich bereits im Alten Testament. So berichtet Jesaja davon, dass Gott seinen Knecht zum „Licht der Heiden“ – also zum Licht der ganzen Welt – machen will. Er ruft seinem Knecht zu: „…Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde“ (Jes.49,6; vgl. 42,6).

 

Wodurch ist er das Licht der Heiden? Dadurch, dass er Recht und Gerechtigkeit aufrichtet: „Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen … Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung“ (Jes.42,1.3.4). Durch seinen Einsatz für andere Menschen ist er ein Licht für die ganze Welt. So ist es auch in der Bergpredigt gemeint. Das Licht, das von den Nachfolgern Jesu ausgeht, besteht in ihren „guten Werken“ (V.16), bzw. im Ausleben der Bergpredigt.

 

Weil Nachfolger Jesu anders mit ihren Mitmenschen umgehen, sind sie das Licht der Welt. Es kann gar nicht anders sein. Warum alles andere eine „unmögliche Möglichkeit“ ist, erläutert Jesus in zwei Illustrationen, mit denen er das Bild vom Licht der Welt weiter ausführt.

 

(14b) Erstens: „Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.“ Dabei dachten viele Zuhörer Jesu sicher an Jerusalem. Schon der Prophet Jesaja sprach davon, dass alle Welt sich von dieser weithin sichtbaren Stadt angezogen fühlen wird: „Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem“ (Jes.2,2-4). Eine solche unübersehbare und anziehende Stadt auf dem Berge ist auch die Gemeinde der Nachfolger Jesu. Deshalb ist sie das Licht der Welt.

 

(15) Zweitens: „Man zündet auch nicht ein Licht an, und setzt es unter einen Scheffel.“ Ein Scheffel ist ein Maßbecher. Er fasst 8,75 Liter. Kein vernünftiger Mensch stellt eine Lampe unter den Scheffel. Jeder stellt sie auf einen Leuchter, auf ein Lampengestell. Da kann sie für alle leuchten. Dafür ist sie schließlich da. Die Gemeinde Jesu ist ein Licht. Deshalb leuchtet sie in die Welt hinaus. Alles andere wäre absurd.

 

(16) Weil feststeht, dass die Jünger Jesu das Licht der Welt sind, sollen sie sich ihrem Wesen entsprechend verhalten. Jesus fordert sie nicht dazu auf, Licht zu werden. Sie sind es. Nun kommt es „lediglich“ darauf an, dass sie sind, was sie sind. Dietrich Bonhoeffer hat das so ausgedrückt: „Die Nachfolgenden sind mit all dem nicht mehr vor eine Entscheidung gestellt: die einzige Entscheidung, die es für sie gibt, ist schon gefallen. Nun müssen sie sein, was sie sind, oder sie sind nicht Nachfolger Jesu.“ (Bonhoeffer, Nachfolge, 93).

 

Konkret: „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten.“ Das ist kein Aufruf zu angeberischem Verhalten oder frommer Schauspielerei.  Davor warnt Jesus ausdrücklich: „Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel“ (Mt.6,1). Die Nachfolger Jesu sollen einfach so sein, wie sie sind. Dann werden die anderen Menschen ihre guten Werke sehen und über ihnen die Größe Gottes erkennen, der das alles in ihnen bewirkt.

 

Zusammenfassung:  Nachfolger Jesu leisten einen unverzichtbaren Beitrag für die menschliche Gemeinschaft. Sie gehen anders mit ihren Mitmenschen um und sind dadurch zugleich ein Hinweis auf Gott.

 

1 Vgl.  Mk.9,50: „Wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit wird man´s würzen?“ In Mt.5,13 und Lk.14,34 fehlt aber das auto („es“). Daher geht es dort nicht darum, dass das Salz gesalzen wird, sondern um die von ihm ausgehende Würzkraft.

2 Das Zertreten kann als Bild für das Gericht Gottes verstanden werden. In Jes.10,6 heißt es: „Ich [Gott] sende ihn [Assur] wider ein gottloses Volk [Juda und Israel] und gebe ihm Befehl wider das Volk, dem ich zürne, dass er´s beraube und ausplündere und es zertrete wie Dreck auf der Gasse.“

 

 

 

6.4    Jesus und das Gesetz und die bessere Gerechtigkeit (5,17-20)

 

(5,17) Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.(5,18) Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. (5,19) Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.

(5,20) Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. 

 

Mit diesem Abschnitt setzt der Hauptteil der Bergpredigt ein. Er beginnt und endet mit dem Stichwort „Gesetz und Propheten“ (5,17 – 7,12). Jesu Rede ist daher eigentlich nichts anderes als eine Stellungnahme zum Gesetz. Zu seiner Zeit waren theologische Diskussionen nahezu ausschließlich Debatten um die rechte Gesetzesauslegung. Schließlich stand das Gesetz im Mittelpunkt der jüdischen Religion.

 

Mit den einleitenden Abschnitten hat Jesus bereits wichtige Akzente gesetzt. In den Seligpreisen hat er deutlich gemacht, dass das Heil des Reiches Gottes keine Sache des Verdienens ist. Vielmehr sind diejenigen selig zu nennen, die alles von Gott erwarten (5,3). Zugleich hat er mit den Bildern vom Salz und vom Licht gezeigt, dass sich Nachfolger Jesu in ihrem Verhalten nahezu zwangsläufig von anderen Menschen unterscheiden. Auf dieser Grundlage beschreibt er nun seine Haltung gegenüber dem Gesetz.

 

(17) „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen;  ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ „Gesetz“ und „Propheten“ – damit sind die beiden wichtigsten Teile der hebräischen Bibel (Lk.24,27) gemeint. Das „Gesetz“ – das sind die fünf Bücher Mose, die Tora. Um sie kreiste das theologische Denken der Rabbinen. Die prophetischen Bücher verstanden sie als Auslegung des Gesetzes. Wenn Jesus hier neben dem Gesetz auch die Propheten nennt, hat er dabei also nicht so sehr deren messianische Verheißungen im Blick, sondern ihre ethischen Forderungen, wie sie z.B. der Prophet Micha zusammengefasst hat: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Mi.6,8).

 

Jesus beteuert seine Treue zum Gesetz und zu den Propheten. Niemand soll meinen, dass er gekommen ist, um sie aufzulösen. „Auflösen“ (katalyō) meint mehr als die Missachtung oder Übertretung eines Gebots. Es geht um die Außerkraftsetzung des Gesetzes, wie sie z.B. vom syrischen König Antiochus Epiphanes betrieben worden war, als er nach der Eroberung Jerusalems den Sabbat und die Beschneidung verbieten ließ. Ihm trat Judas Makkabäus mit seinen Brüdern entgegen, von denen daher in den apokryphen Makkabäerbüchern berichtet wird „wie sie den Tempel, der in aller Welt berühmt ist, wieder gewonnen und die Stadt befreit haben und wie sie die Gesetze, die man auflösen (katalyō)  wollte, wieder aufgerichtet haben, weil der Herr ihnen wohl wollte und gnädig war“ (2.Makk.2,23).

 

Jesus will das Gesetz nicht auflösen, sondern erfüllen. So wie „auflösen“ mehr meint als Übertretung des Gesetzes, bedeutet auch „erfüllen“ nicht nur, dass Jesus die Gebote einhalten will. Jesus weist in seiner Verkündigung darauf hin, dass die Zeit „erfüllt“ ist (Mk.1,15) und wirft den Pharisäern vor, dass sie das Maß ihrer Väter voll machen (Mt.23,23). „Erfüllen“ (plēroō) heißt,  „etwas voll machen“, „etwas ausfüllen“. Im vorliegenden Textabschnitt bedeutet dies, dass Jesus gekommen ist, um das Gesetz und die Propheten in ihrer wahren Bedeutung herauszustellen. Schließlich geht es hier nicht um Jesu Handeln, sondern um seine Lehre. In der Bergpredigt offenbart Jesu den „Sinn der alttestamentlichen Tora und führt sie so zu ihrer Eigentlichkeit“. (Strecker, 57). Das wird in den folgenden „Antithesen“ (Mt.5,21-48) oder auch in seinem Hinweis auf die ursprüngliche Absicht Gottes mit der Ehe (Mt.19,8) deutlich. Jesus legt das Gesetz und die Propheten so aus, dass  die Gottes- und Nächstenliebe im Zentrum stehen (Mt.7,12; Mt.22,34-40).

 

(18) Mit kräftigen Worten unterstreicht Jesus die bleibende Gültigkeit des Gesetzes. „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.“ Wenn diese Welt ein Ende hat und Jesus in den Wolken des Himmels wiederkommt, werden Himmel und Erde zugrunde gehen (Mt.24,3.29.35; vgl. 2.Petr.3,12). Bis dahin aber wird das Gesetz bestehen. (1) Unter keinen Umständen werden auch nur ein Jota – der kleinste Buchstabe der hebräischen Quadratschrift – oder ein Tüpfelchen des Gesetzes – gemeint sind Buchstabenverzierungen, ihre Gültigkeit verlieren. Beide Bilder wurden auch in der jüdischen Überlieferung benutzt, um die Unveränderlichkeit der Tora zu verdeutlichen. (StrBill, I, 244.247ff.)

 

(19) Daraus folgt: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.“ Weil selbst das Jota und das Tüpfelchen des Gesetzes ihre Gültigkeit nicht verlieren werden, warnt Jesus die Lehrer der urchristlichen Gemeinde davor, irgendwelche Gebote des göttlichen Gesetzes für überflüssig zu erklären – und seien es Gebote, die vergleichsweise unwichtig erscheinen.

 

Im rabbinischen Judentum maß man den einzelnen Geboten eine unterschiedliche Bedeutung zu (vgl. Mt.22,36). Zu den wichtigen Geboten wurden z.B. das Sabbatgebot (2.Mose 20,8-11) oder das Verbot der Entweihung des Gottesnamens (2.Mose 20,7) gezählt. Als vergleichsweise unwichtig, wenngleich natürlich dennoch verbindlich, galt demgegenüber z.B. das Gebot, die Vogelmutter beim Ausheben des Nestes frei zu lassen (5.Mose 22,7). (StrBill I, 901ff.).

 

Wer diese kleinsten Gebote für überholt erklärt, wird dafür seinen Lohn erhalten: Er „wird der Kleinste heißen im Himmelreich“. Im zeitgenössischen Judentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass die Erlösten in der Ewigkeit je nach ihren Verdiensten unterschiedliche Ränge bekleiden. (StrBill I, 249f.). Jesus greift diesen Gedanken auf (Mt.11,11; 18,1.4). Wer die kleinsten Gebote beiseite schiebt, geht also nicht seines ewigen Heils verlustig, wird aber im Himmelreich nur einen niederen Rang bekleiden. (2) Daher ist es wichtig, allen Geboten – auch den kleinsten – Beachtung zu schenken.

 

(20) Warum ist Jesus unsere Haltung gegenüber dem Gesetz so wichtig? Weil hier unser ewiges Heil auf dem Spiel steht. Wer die kleinen Gebote abtut, wird im Himmelreich der Kleinste heißen. Die Pharisäer aber werden überhaupt nicht dorthin gelangen. Warum nicht? Sie kümmern sich zwar engagiert um die vergleichsweise unbedeutenden Bestimmungen des Gesetzes, lassen aber „das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben“ (Mt.23,23). Daraus ergibt sich an sie die Frage: „Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“ (Mt.23,33). Die Gerechtigkeit der Nachfolger Jesu muss demgegenüber von anderer Qualität sein. Für sie hat „das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit“ oberste Priorität (Mt.6,33). Sie hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit (Mt.5,6). Sie beschränken sich nicht  auf die formale Erfüllung von Gesetzen. Das wird in den „Antithesen“ (Mt.5,21-48) und der „Goldenen Regel“ (Mt.7,12) deutlich. Sie wissen, dass die Liebe Mittelpunkt des Gesetzes ist. Liebe aber ist mehr als Pflicht. Deshalb ist ihre Gerechtigkeit besser als die der Pharisäer. Jesus meint nicht, dass wir uns unser ewiges Leben durch eine Vielzahl guter Taten verdienen sollen. Ihm geht es um eine andere Einstellung gegenüber dem Willen Gottes.

 

Zusammenfassung:  Jesus hat das alttestamentliche Gesetz nicht aufgelöst, sondern dessen eigentlichen Sinn offenbart. Danach steht die Liebe im Mittelpunkt des Gesetzes. Aus diesem Grunde behalten auch die scheinbar unbedeutenden Gebote ihre Gültigkeit. Eine rein formale Beachtung von Geboten ist nicht ausreichend. Jesus will, dass wir die Suche nach Gerechtigkeit in unserem Leben an die erste Stelle setzen.

 

1 In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die jüdische Überlieferung die ewige Dauer und Gültigkeit der Tora herausstellt. Danach hat die Herrschaft der Tora auch nach dem Jüngsten Gericht kein Ende, sondern wird Lebensinhalt der Seligen sein. Lediglich die anderen Bücher des AT werden ihre Gültigkeit verlieren (vgl. StrBill I, 245f.). Wenn Jesus demgegenüber die Gültigkeit der Tora auf die Zeit bis zum Ende der Welt beschränkt, könnte hier eine Polemik gegen den Gedanken der Weiterführung des pharisäischen Lebensideals im Himmel anklingen.

2 Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch bei Paulus. Er spricht in 1.Kor.3,14.15 von Menschen, die für ihr Werk einen (himmlischen) Lohn erhalten und von solchen, die zwar das ewige Leben empfangen, jedoch keinen Lohn erhalten, sondern „wie durchs Feuer hindurch“ gerettet werden.

 

 

 

6.5    Die Antithesen (5,21-48)

 

Jesus fordert in seiner Bergpredigt eine „bessere Gerechtigkeit“ (Mt.5,20). Diese bessere Gerechtigkeit setzt das Gesetz, das Gott dem Volk Israel am Berg Sinai offenbart hat, nicht außer Kraft. Jesus geht es um die Erfüllung des Gesetzes, darum, dass seine Zuhörer den Sinn der Gebote in ihrer ganzen Tiefe erkennen. Was er damit meint, verdeutlicht er im Folgenden an einigen Beispielen (Mt.5,21-48).

 

In diesen Beispielen wird jeweils ein Gebot der Tora zitiert. Anschließend folgt Jesu Kommentar. Eingeleitet wird er mit dem Satz „Ich aber sage euch“. Seit Marcion  († um 160 n. Chr.) spricht man in diesem Zusammenhang von „Antithesen“. Dieser Begriff ist jedoch irreführend. Marcion lehnte das Alte Testament und sein Gottesbild grundsätzlich ab und erklärte das Gesetz für aufgehoben. Er wollte stattdessen „das Evangelium vom guten Gott“ verkündigen. Dazu stellte er einen Kanon von Schriften zusammen, der seine Auffassung unterstreichen sollte. Dieser umfasste das Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe, die er zuvor von angeblichen judaistischen Verfälschungen „gereinigt“ hatte. Nachdem seine Lehren von der Kirche verworfen wurden, gründete er eine Gegenkirche. Der Begriff „Antithesen“ ist also von seinem Ursprung her mit dem Gedanken der Auflösung des Gesetzes verbunden und sollte daher eigentlich vermieden werden.

 

Was aber meint das „aber“ (griechisch: de) in der Formel „Ich aber sage euch“? Je nachdem, ob es einen Gegensatz beschreibt oder eine reine Verknüpfung darstellt, kann es mit  „aber“ oder mit „und“ übersetzt werden. Der jüdische Theologe Pinchas Lapide hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Formeln „Ihr habt gehört“ (bzw. „Es ist gesagt“) und „Und ich sage euch“ zur Zeit Jesu in der schriftgelehrten Diskussion über das Gesetz als „Fachausdrücke“ dienten. „Der erstere will besagen: Ihr habt dieses Schriftwort bisher folgendermaßen verstanden, worauf entweder der Wortsinn, die landläufige Exegese (Textauslegung) oder die Meinung des Gegners zitiert wird. Hierauf heißt es: ´Und ich sage euch´, worauf die neue Auslegung … erfolgt.“ (Lapide, 47) Gemeint ist also nicht die Aufhebung eines Gebotes, sondern dessen richtige Auslegung. Das passt zu dem, wie Jesus seine Stellung gegenüber dem Gesetz beschrieben hat. Daher ist die Übersetzung „Und ich sage euch“ vorzuziehen.

 

 

6.5.1    Vom Töten (5,21-26)

 

(5,21) Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2. Mose 20,13; 21,12): «Du sollst nicht töten»; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. (5,22) Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig. 

(5,23) Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, (5,24) so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe. (5,25) Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest. (5,26) Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.       

 

(21) „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist ...“  Die „Alten“, das sind die Garanten der jüdischen Gesetzestradition. Der Mischnahtraktat Aboth (Mischna = rabbinische Gesetzesauslegung, Vorstufe des Talmud) wird mit den Worten eingeleitet: „Mose empfing das Gesetz von Sinai und übergab es dem Josua, und Josua den Ältesten, und die Ältesten den Propheten, und die Propheten übergaben es den Männern der großen Synagoge.“ (zit. in Gnilka, 153) Zu ihnen hat Gott gesprochen. Die passive Verbform („gesagt ist“) wurde im Judentum häufig benutzt, um den heiligen Gottesnamen nicht aussprechen zu müssen.

 

Gott hat Mose und seinen Nachfolgern gesagt, dass sie nicht töten sollen (2.Mose 20,13). Zugleich hat er ihnen mitgeteilt, mit welcher Strafe die Übertretung dieses Gebots zu ahnden ist – nämlich mit der Todesstrafe (2.Mose 21,12; 3.Mose 24,17; 4.Mose 35,16-18). „Des Gerichts schuldig sein“ meint die Überstellung des Mörders an den „Gerichtshof der 23“. Solche Gerichtshöfe befanden sich an allen Orten mit mehr als 120 Einwohnern und hatten die Befugnis, über Mörder und Totschläger das Urteil zu verhängen.

 

(22)  Diese Weisungen des Gesetzes legt Jesus nun neu aus. „Ich aber sage euch (bzw.´Und ich sage euch´): Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“  Der Bruder ist der Volksgenosse. In seiner Auslegung des Gebots der Nächstenliebe wird Jesus dazu auffordern, auch den Feind und nicht nur den Nächsten, bzw. den Bruder, zu lieben (Mt.5,43-48). In den Augen Jesu geht es nicht an, sich bereits deshalb für einen unbescholtenen Bürger zu halten, weil man seine Mitmenschen nicht umbringt. Die Todesstrafe droht auch denen, die ihren Mitmenschen im Zorn begegnen,  sie als „Nichtsnutz“ (andere Übersetzung: „Dummkopf“, „Trottel“) bezeichnen, oder gar als gottlosen Narren(1) beschimpfen. Auch bei den Strafen findet sich eine Steigerung: Verurteilung zum Tode durch das örtliche Gericht der 23,  den Hohen Rat in Jerusalem oder die Vernichtung durch das „ewige Feuer“ beim großen Weltgericht (Mt.25,41).

 

Was will Jesus damit sagen? Soll also jemand, der seinen Nachbarn im Streit einmal als „Trottel“ bezeichnet hat, dafür vor den obersten Gerichtshof gezerrt werden, damit er dort die  schwersten Strafen auferlegt bekommt? Das ist natürlich eine paradoxe Überspitzung. Mit ihrer Hilfe will Jesus ausdrücken, dass die „bessere Gerechtigkeit“ (Mt.5,20) mit der buchstäblichen Erfüllung des 6. Gebots noch nicht erreicht ist. Gefordert ist ein von Grund auf neues Verhältnis der Menschen untereinander.

 

(23.24) In den beiden folgenden Versen führt Jesus seine Gedanken weiter aus. Eben hatte er Beispiele dafür gebracht, was man nicht tun soll. Nun macht er an einem weiteren Beispiel deutlich, welches Verhalten untereinander er sich wünscht. Auch hier formuliert Jesus bewusst radikal: „Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass  vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe.“

 

Jesus schildert einen Vorgang, der seinen Zeitgenossen gut vertraut ist. Jemand will im Jerusalemer Tempel opfern. Er bringt die Opfergabe, das Opfertier, zum Brandopferaltar, um es dem Priester zu übergeben, der es für ihn darbringen soll. Nun aber soll der Gläubige dem Geschehen in letzter Sekunde Einhalt gebieten. Auch aus Sicht der Rabbiner gab es Gründe, eine Opferhandlung zu unterbrechen. Dabei handelte es sich jedoch ausschließlich um kultische Gründe. Die Notwendigkeit einer vorherigen Versöhnung gehörte nicht dazu. (Grundmann, 157) Für Jesus ist aber genau das von entscheidender Bedeutung: „... und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat ...“ Ob der Bruder ihm zu Recht oder zu Unrecht zürnt, spielt hier keine Rolle. Entscheidend ist, dass das Verhältnis der beiden gestört ist. Dadurch ist der Gläubige kultunfähig. Ihm wird die Berechtigung abgesprochen, einen sinnvollen Gottesdienst zu feiern. Er muss sich zuerst mit seinem Bruder versöhnen.

 

Für die galiläischen Zuhörer, für die dieses Gebot Jesu unter Umständen eine mehrtägige Rückreise nach Galiläa bedeutet hätte, muss diese Forderung provozierend geklungen haben. Wie in Vers 22, so haben wir es auch hier mit einer beispielhaften und zugespitzten Forderung zu tun, „die auf eine neue Grundeinstellung zum Mitmenschen zielt und insofern mehr will als ihre wörtliche Erfüllung“. (Luz, 259) Das 6. Gebot ist also nicht bereits dadurch erfüllt, dass wir niemanden umbringen, sondern erst dann, wenn unsere Haltung zu unseren Mitmenschen von Liebe und Versöhnung geprägt ist.

 

(25.26) Auch das abschließende Beispiel spricht von der Versöhnung mit dem Widersacher. Zusätzlich betont es die Dringlichkeit der Versöhnung. „Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.“  Es geht um einen Schuldner, dem die Schuldhaft droht. Ein Gläubiger konnte bei Zahlungsunfähigkeit seines Schuldners nicht nur durchsetzen, dass der Richter dessen Vermögen beschlagnahmte, sondern auch seine Einlieferung ins Schuldgefängnis bewirken (vgl. Mt.18,21-35). Wenn, wie hier, die Eröffnung des Prozesses unmittelbar bevorsteht, ist der Schuldner gut beraten, sich umgehend mit seinem Gläubiger zu verständigen.

 

Für Jesus ist das ein Gleichnis für das göttliche Gericht (vgl. Mt.5,22, letzter Teil). Jetzt haben wir noch die Möglichkeit, uns mit unseren Mitmenschen zu versöhnen. Aber das Himmelreich steht vor der Tür (Mt.4,17). Damit verbunden ist das große Weltgericht (Mt.25,31-46). Deshalb gilt es, die Chance zur Versöhnung heute zu nutzen.

 

Zusammenfassung:  Zur Erfüllung des Gesetzes gehört eine neue Einstellung zu unseren Mitmenschen, die auf Versöhnung und Frieden aus ist. Angesichts des nahen Reiches Gottes kommt dem eine besondere Bedeutung zu.

 

1 Der „Narr“ gilt i.d.R. als gottlos (z.B. Ps.14,1; 94,8; Jes.32,5f.; 5.Mose 32,6; Jer.5,21; vgl.  ThWNT IV, 844f).

 

 

 

6.5.2    Vom Ehebrechen (5,27-32)

 

(5,27) Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): «Du sollst nicht ehebrechen.» (5,28) Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. (5,29) Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf's von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. (5,30) Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.

(5,31) Es ist auch gesagt (5. Mose 24,1): «Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.» (5,32) Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe. 

 

In der Bergpredigt offenbart Jesus den tieferen Sinn des Gesetzes und ruft zu einer „besseren Gerechtigkeit“ auf. Dazu gehören „bessere Ehen“. In Jesu Augen ist es nicht genug, wenn eine Ehe einigermaßen funktioniert und keiner dem Anderen untreu wird. Eine solche Ehe wird möglicherweise nur noch dadurch zusammengehalten, dass man „vernünftig“ ist. Vielleicht handelt es sich auch bloß um Feigheit. Äußerlich ist man sich treu. Die Gedanken und Gefühle der Partner sind jedoch längst eigene Wege gegangen. „Eine gute Ehe“ aber ist eine Ehe, in der Treue Spaß macht.

 

(27) Jesus legt das 7. Gebot aus: „Du sollst nicht ehebrechen“ (2.Mose 20,14). Dabei hat er die Männer im Blick: „…Wer eine Frau ansieht …“ (Mt.5,28). Wann begeht ein Mann Ehebruch? Nach alttestamentlichem Verständnis liegt Ehebruch vor, wenn ein Mann in eine fremde Ehe einbricht und mit der „Frau seines Nächsten“ Geschlechtsverkehr hat. Dafür wurde er mit dem Tode bestraft: „Du sollst auch nicht bei der Frau deines Nächsten liegen, dass du an ihr nicht unrein werdest“ (3.Mose 18,20). „Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben, Ehebrecher und Ehebrecherin, weil er mit der Frau seines Nächsten die Ehe gebrochen hat“ (3.Mose 20,10). „Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben, der Mann und die Frau, der er beigewohnt hat; so sollst du das Böse aus Israel wegtun“ (5.Mose 22,22). Der Geschlechtsverkehr mit einer unverheirateten Frau galt jedoch nicht als Ehebruch und wurde auch nicht annähernd so streng geahndet (5.Mose 22,28.29; 2.Mose 22,15.16).

 

Zur Zeit Jesu bemühte sich die jüdische Gesetzesauslegung darum, die Verhängung der Todesstrafe für Ehebruch möglichst zu erschweren. Danach ist nur der Ehebruch mit einer Israelitin strafbar, Geschlechtsumgang mit der Frau eines Nichtisraeliten dagegen straffrei. Unbestraft bleibt der Ehebruch auch, wenn der Tat keine ausdrückliche Warnung vorangegangen ist und keine Zeugen dabei waren. Außerdem muss der Täter volljährig sein. (ThWNT IV, 739).

 

(28) Die Auslegung Jesu bedeutet jedoch keine Erleichterung, sondern eine Verschärfung: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ Es ist wie bei seinem Kommentar zum 6. Gebot (Mt.5,22): Wer mit dem Buchstaben des Gesetzes nicht in Konflikt gerät, soll sich allein dadurch noch nicht für rechtschaffen halten. Mord beginnt schon vor der eigentlichen Bluttat. Entsprechend ist der Tatbestand des Ehebruchs schon erfüllt, ehe es zu seinem körperlichen Vollzug gekommen ist. Bereits der lüsterne Blick, mit dem jemand einer Frau nachschaut, ist Übertretung des Gebots. Er hat dadurch in seinem Herzen, dem Sitz seines Willens (vgl. Mt.5,8), bereits die Ehe gebrochen.

 

Will Jesus jeden, der einer Frau hinterher blickt – oder sogar nachpfeift – als Ehebrecher brandmarken und dem Scharfrichter zuführen? Was im Herzen eines Menschen geschieht, entzieht sich jeder Beurteilung von außen. Niemand kann darüber richten. Jesus will seine Zuhörer aber herausfordern, provozieren. Er will ihnen zeigen, dass es auf ihr Inneres ankommt und sie aufrufen, ihre Einstellung zur Sexualität zu überprüfen – und zu verändern. Beim Ehebruch sind nicht allein die Genitalien engagiert, sondern vor allem das „Herz“. Die Ehe ist in den Augen Jesu eine Gemeinschaft, in der wir uns mit Leib und Seele ganz auf unseren Partner einlassen und ihm deshalb auch in unseren Gedanken treu sind.

 

(29.30) In den beiden folgenden Versen ruft Jesus dazu auf, sich mit ganzer Kraft um diese neue Einstellung bemühen: „Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf´s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.“  Das Auge bezieht sich natürlich auf den eben geschilderten lüsternen Blick. Dementsprechend steht die Hand für begehrliche Berührungen. Rabbi Eliezer sprach von Menschen, „die Ehebruch treiben mit der Hand“ (zit. in Grundmann, 161). Dass Jesus dabei auf das „rechte“ Auge und die „rechte“ Hand abhebt, ist kein Zufall: „Die rechte Seite ist nach antiker Vorstellung die Wichtigere.“ (Gnilka, 163)

 

Die Aufforderung, das Auge auszureißen oder die Hand abzuhauen, ist selbstverständlich nicht wörtlich gemeint. Schließlich können sich auch Einäugige und Einhändige sexistisch verhalten. Jesus greift hier erneut zu einer bewussten Überspitzung. Gemeint ist, dass seine Nachfolger zu Opfern, d.h. zu grundlegenden Veränderungen und radikalen Einschnitten, bereit sein müssen, um nicht dem göttlichen Gericht(1) zu verfallen:

 

(31) Jesus ergänzt seine Stellungnahme zum Ehebruch durch eine Anmerkung zur Ehescheidung. Er gibt die alttestamentliche Vorschrift zum Scheidungsrecht (5.Mose 24,1-4) in eigenen Worten wieder: „Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben“. Ein Recht auf Ehescheidung gab es praktisch nur für den Mann. In der Tora heißt es: „Wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief schreibt …“ (5.Mose 24,1).  Wenn ein Mann an seiner Frau „etwas Schändliches“ gefunden hatte, konnte er sich also von seiner Frau trennen. Dann musste er seiner Frau einen Scheidebrief ausstellen. Dieser sollte ihr Rechtssicherheit verleihen und sie vor dem Vorwurf des Ehebruchs schützen, wenn sie sich wieder verheiratete.

 

Aber wann ist denn der Tatbestand der „Schändlichkeit“ erfüllt? Die Mischna fasst die schriftgelehrte Diskussion darüber so zusammen: „Schammais Schule sagt: ein Mensch verstoße seine Frau nur, wenn er eine schandbare (= unzüchtige) Sache an ihr gefunden hat. Wie gesagt ist: weil er an ihr eine Schande der Sache gefunden hat. Und Hillels Schule sagt: (er verstoßen sie) auch, wenn sie (nur) eine Speise hat anbrennen lassen. Wie gesagt ist: weil er an ihr die Schande irgendeiner Sache gefunden hat. Rabbi Aquiba sagt: (er verstoße sie) auch, wenn er eine andere schöner als sie gefunden hat. Wie gesagt ist: und wenn sie keine Anmut in seinen Augen gefunden hat.“ (Mischna Gittin IX, 10, zit. in Kippenberg/Wewers).

 

(32) In seiner Stellungnahme geht Jesus in eine ganz andere Richtung: „Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.“ In seinen Augen ist die Ehe unauflöslich: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!“ (Mt.19,6). Durch die Ehescheidung wurde die Frau schutzlos und war wohl in der Regel auf eine neue Heirat angewiesen. Daher macht Jesus den Mann dafür verantwortlich, wenn seine Ex-Frau Ehebruch begeht. Von dieser Regel lässt Jesus nur eine einzige Ausnahme zu: wenn die Frau sich außerhalb der eigenen Ehe sexuell betätigt und dadurch – so wörtlich - „Hurerei“ begangen hatte. Damit verhängt Jesus ein radikales Scheidungsverbot.

 

Zugleich untersagt er die Heirat einer Geschiedenen. In der Tora wird nur verboten, die eigene Frau nach einer Scheidung ein zweites Mal zu heiraten (5.Mose 24,4). Jesus weitet dieses Verbot auf alle geschiedenen Frauen aus. Dabei spielt es offensichtlich keine Rolle, ob die Scheidung zu recht oder zu unrecht erfolgt war. Kein Mann darf eine geschiedene Frau heiraten.

 

Damit kritisiert Jesus ein Verhalten, dass bei seinen Zuhörern als weitgehend normal galt. Er aber setzt es mit Ehebruch gleich und hebt es in den Rang einer kriminellen Handlung.

 

Unwillkürlich stellt sich die Frage: Was soll man tun, wenn eine Ehe definitiv gescheitert ist? Sollen die Ehepartner dazu gezwungen werden, zusammenzubleiben? Werden sie sich dabei nicht immer nur neue Wunden zufügen?

 

Die radikale Sprache Jesu ist, wie bei seinen Aussagen zum 6. und 7. Gebot (Mt.5,21-26; 5,27-30), ein Hinweis darauf, dass seine Ausführungen nicht als Gesetz verstanden werden wollen, dass buchstabengetreu umgesetzt werden soll. Jesus geht es vielmehr um eine neue Sicht der Ehe. Er ruft die Ehepartner auf, auftretende Konflikte gemeinsam  durchzustehen, anstatt ihre Beziehung in Frage zu stellen. Die Frau (oder auch der Mann) ist kein Objekt, das bei Nichtgefallen einfach umgetauscht werden kann.

 

Weil es Jesus nicht um die Verschärfung von Gesetzen, sondern um eine neue Haltung geht, dürfen seine Worte nicht im Sinne eines absoluten Verbotes von Scheidung und Wiederverheiratung verstanden werden. Das Evangelium von der Liebe Gottes ruft zur Umkehr und spricht Gottes Vergebung zu (vgl. Joh.8,1-11). In diesem Sinne verurteilt Jesus die Geschiedenen nicht zu lebenslanger Ehelosigkeit, sondern eröffnet ihnen einen Weg in eine neue Ehe.

 

Zusammenfassung:  In seiner Kommentierung des 7. Gebots nimmt Jesus gegen eine äußerlich-juristische Sichtweise des Ehebruchs Stellung und fordert stattdessen eine neue innere Einstellung. Auch das Verbot von Scheidung und Wiederverheiratung protestiert gegen einen leichtfertigen Umgang mit der Ehe und betont die Radikalität der „besseren Gerechtigkeit“.

 

1 Das Wort „Hölle“ (gr.: geenna) bezeichnet keinen unterirdischen Ort der Qual, sondern die Vernichtung der Gottlosen beim großen Weltgericht,  vgl. Mt.5,22; 29,41.

 

 

6.5.3    Vom Schwören (5,33-37)

 

(5,33) Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3. Mose 19,12; 4. Mose 30,3): «Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.» (5,34)  Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; (5,35) noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn  sie ist die Stadt des großen Königs. (5,36) Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. (5,37) Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.

 

(33) In seinem vierten Beispiel setzt sich Jesus mit dem Eid auseinander. Wer einen Eid leistet, erklärt Gott zum Zeugen für seine Aussage. Wenn es sich dabei um eine Aussage über ein vergangenes oder gegenwärtiges Geschehen handelt, z.B. im Rahmen einer Gerichtsverhandlung, spricht man von einem „assertorischen“ (bekräftigenden) Eid. Geht es um eine Aussage über das künftige Verhalten, z.B. bei einer Vereidigung, bezeichnet man diesen Eid als „promissorisch“ (versprechend). Dem alttestamentlichen Recht waren beide Formen geläufig. Die Warnung „du sollst keinen falschen Eid schwören“ (3.Mose 19,12) bezieht sich auf den bekräftigenden Eid (vgl. 2.Mose 22,10). Die Aufforderung zur Einhaltung des Eides meint Gelübde und Eide, in denen sich jemand zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet: „Wenn jemand dem HERRN ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, dass er sich zu etwas verpflichten will, so soll er sein Wort nicht brechen, sondern alles tun, wie es über seine Lippen gegangen ist“ (4.Mose 30,3; vgl. Ps.50,14).

 

Die Zeitgenossen Jesu machten vom Eid regen Gebrauch. Bei vielen Gelegenheiten wurde eine Aussage eidlich bekräftigt, um ihr auf diese Weise Nachdruck zu verleihen.  Wird der Eid jedoch etwas ganz Alltägliches, so ist das ein Zeichen für eine große Unsicherheit gegenüber der Zuverlässigkeit des menschlichen Wortes. Außerdem steigt die Gefahr falscher Eide. Daher warnte schon der Weisheitslehrer Jesus Sirach vor dem häufigen Gebrauch des Eides: „Gewöhne deinen Mund nicht ans Schwören und nicht daran, den Namen des Heiligen ständig zu nennen. Denn wie ein Knecht, der beim Verhör oft geschlagen wird, nicht ohne Striemen ist, so kann auch der nicht rein von Sünde bleiben, der oft schwört und Gottes Namen ständig nennt. Wer oft schwört, der sündigt oft, und die Plage wird seinem Hause nicht fernbleiben. Schwört er unbedacht, so sündigt er dennoch; hält er´s nicht, so sündigt er zweifach; schwört er aber falsch, so wird er nicht gerecht gesprochen; sein Haus wird hart bestraft werden“ (Sir.23,9-14).

 

Auch im rabbinischen Judentum wurde dieser Umgang mit dem Eid beklagt. Besonders problematisch war in seinen Augen der Missbrauch des Gottesnamens. Um eine Übertretung des dritten Gebots („Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen ...“;  2.Mose 20,7)  zu verhindern, versuchte man die Aussprache des heiligen Gottesnamens möglichst zu vermeiden und gebrauchte stattdessen Ersatzformulierungen (z.B. „Himmel“). Diese Ersatzformeln wurden auch beim Schwören verwand. So konnte z.B. beim Tempel“, „beim Altar“ oder „beim Himmel“ geschworen werden. Eine solche Regelung, so gut sie gemeint war, konnte bewirken, dass nun noch sorgloser mit dem Eid umgangen wurde. Hinzu kam schließlich, dass man – wie Jesus in einer seiner Reden scharf kritisiert – den verschiedenen Eidesformeln einen unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit zuschrieb: „Weh euch, ihr verblendeten Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei dem Tempel, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Gold des Tempels, der ist gebunden. Ihr Narren und Blinden! Was ist mehr: das Gold oder der Tempel, der das Gold heilig macht? Oder: Wenn einer schwört bei dem Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Opfer, das darauf liegt, der ist gebunden. Ihr Blinden! Was ist mehr: das Opfer oder der Altar, der das Opfer heilig macht? Darum, wer schwört bei dem Altar, der schwört bei ihm und allem, was darauf liegt. Und wer schwört bei dem Tempel, der schwört bei ihm und bei dem, der darin wohnt. Und wer schwört bei dem Himmel, der schwört bei dem Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt“ (Mt.23,16-22).

 

(34-36) Vor diesem Hintergrund erlässt Jesus ein generelles Schwurverbot: „Ich aber sage euch (bzw. ´Und ich sage euch´), dass ihr überhaupt nicht schwören sollt …“. Dabei schließt er die Verwendung von Ersatzausdrücken ausdrücklich ein: „… weder bei dem Himmel, … noch bei der Erde, … noch bei Jerusalem … Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören …“ Zur Begründung weist er darauf hin, die alle diese Eidesformeln dem Schwur beim Namen Gottes in nichts nachstehen. Der Himmel ist doch der Thron Gottes und die Erde der Schemel seiner Füße: „So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Thron und die Erde ist der Schemel meiner Füße! …“ (Jes.66,1). Jerusalem ist die Stadt Gottes, des großen Königs: „Groß ist der HERR und hoch zu rühmen in der Stadt unsres Gottes, und auf seinem heiligen Berge. Schön ragt empor der Berg Zion, daran sich freut die ganze Welt …“ (Ps.48,2.3). Selbst wenn jemand bei seinem Haupte schwört, ist das in Wirklichkeit ein Schwur bei Gott. Warum? Weil der Mensch aus sich selbst heraus nicht einmal seine Haarfarbe bestimmen kann, während Gott unsere Haare auf unserem Haupt alle gezählt hat (Mt.10,30). Egal welche Schwurformeln benutzt werden – immer ist Gott selbst gemeint. Deshalb können sie nicht weiterhelfen. Damit sind alle Schleichwege abgeschnitten. Das Verbot des Schwörens gilt absolut.

 

Auch mit diesem Abschnitt löst Jesus bei seinen Zuhörern – und dazu gehören auch wir – automatisch wichtige Fragen aus. Sollen wir etwa den Eid vor Gericht oder bei der Verbeamtung verweigern? Die Auslegungsgeschichte dieses Textabschnitts ist weitgehend „von Versuchen bestimmt, dem Text seinen Stachel zu nehmen und seine Forderungen zu erleichtern oder zu umgehen“. (Luz, 286)  So wurde z.B. behauptet, dieses Wort gelte nur für die Mönche. Aufgrund seiner Lehre von den zwei Reichen (vgl. Einleitung) war Luhter der Auffassung, dass das Verbot des Eides nicht für den Bereich des Staates gelte. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass sich religiöse Minderheiten um eine wörtliche Umsetzung dieses Jesuswort bemüht haben (Katharer, Waldenser, Täufer). Auch Leo TOLSTOI  (russischer Schriftsteller, 1828-1910) hat den Eid, z.B. den Fahneneid, entschieden abgelehnt. (Luz, 286-289).

 

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Worte Jesu nicht im buchstäblich-gesetzlichen Sinne verstanden werden wollen. Wenn Jesus sagt, dass der Benutzer eines Schimpfwortes vor den Hohen Rat gehört (Mt.5,22) und dass man im Zweifelsfall sein rechtes Auge ausreißen soll (Mit.5,29), dann geht es ihm dabei um eine Einstellung. Das ist auch beim Verbot des Schwörens sein Ziel.

 

(37) Worin besteht das Anliegen Jesu? Welche Einstellung ist gefordert? Jesus möchte, dass wir es jederzeit mit der Wahrheit genau nehmen – und nicht nur dann, wenn wir die entsprechende Schwurformel benutzen: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.“  In rabbinischen Texten dient das zweimalige Ja bzw. Nein zur Verstärkung und Bekräftigung. (ThWNT, V, 181). Gemeint ist also „ein wirkliches Ja, ein Ja, das gilt und Bestand hat.“(Luz, 286) Das zeigt auch eine Parallele aus dem Jakobusbrief, in der dieses Jesuswort wiederholt wird: „Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwört nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch mit einem andern Eid. Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein, damit ihr nicht dem Gericht verfallt“ (Jak.5,12). Jesus fordert die absolute Wahrhaftigkeit unserer Rede, die jede Beteuerung überflüssig macht. Alle anderen Bemühungen im Umgang mit der Wahrheit sind „vom Übel“ – wörtlich: „vom Bösen“. Der Böse ist niemand anders als der Teufel (Mt.13,38f.). Er ist „der Vater der Lüge“ (Joh.8,44).

 

Welcher praktische Umgang mit dem Eid folgt aus dieser Haltung? Weil Nachfolger Jesu immer der Wahrheit verpflichtet sind, dürfen sie dadurch, dass sie Gott ausdrücklich als Zeugen der Vergangenheit und Gegenwart anrufen, nicht den Anschein erwecken, dass ihre Aussage erst dadurch vertrauenswürdig wird. Problematischer ist der in die Zukunft gerichtete Treueid: Weil für Nachfolger Jesu der Wille Gottes an erster Stelle steht, gehört es auch zur Wahrhaftigkeit ihres Treueides, dass sie ihn unter den Vorbehalt aus Apostelgeschichte 5,29 stellen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Bonhoeffer, 113)

 

Zusammenfassung:  Es geht nicht an, es mit der Wahrheit nur im Ernstfall genau zu nehmen. Indem Jesus den Eid untersagt, ruft er zu absoluter Wahrhaftigkeit auf.

 

 

6.5.4    Vom Vergelten (5,38-42)

 

(5,38) Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): «Auge um Auge, Zahn um Zahn.» (5,39) Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. (5,40)  Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. (5,41)  Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. (5,42) Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

 

(38) In seinem fünften Beispiel für eine „bessere Gerechtigkeit“ setzt sich Jesus mit einem Wort des Alten Testaments auseinander, das auch in unserem Sprachgebrauch einen festen Platz hat: „Auge und Auge, Zahn um Zahn“ (2.Mose 21,24). Diese Bestimmung klingt in unseren Ohren wie ein Aufruf zur hemmungslosen Rache. Tatsächlich aber markiert sie eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Einführung des Rechtsstaats. Es geht nicht darum, dass derjenige, dem in einem Handgemenge einen Zahn verliert, dazu aufgefordert wird, es seinem Widersacher kräftig heimzuzahlen. Das Gesetz richtet sich gar nicht an den Geschädigten, sondern an den Schädiger und legt die Art seiner Bestrafung fest, die er nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren auferlegt bekommt. Sie soll dem von ihm angerichteten Schaden entsprechen.

 

Eine mögliche Strafe bestand darin, dass man dem Schädiger einfach exakt das zufügte, was er einem anderen angetan hatte: „Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun“ (3.Mose 24,19.20). Die Angelegenheit konnte jedoch auch durch finanzielle Ersatzleistungen geregelt werden: „Wenn Männer miteinander streiten und einer schlägt den andern mit einem Stein oder mit der Faust, dass der nicht stirbt, sondern zu Bett liegen muss und wieder aufkommt und ausgehen kann an seinem Stock, so soll der, der ihn schlug, nicht betraft werden; er soll ihm aber bezahlen, was er versäumt hat, und das Arztgeld geben …Wenn Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, so dass ihr die Frucht abgeht, ihr aber sonst kein Schaden widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel ihr Ehemann ihm auferlegt, und er soll´s geben durch die Hand der Richter“ (2.Mose 21,18.19.22). Es geht also um die Bestrafung des Unrechts, bzw. darum, dass der Geschädigte zu seinem Recht kommt.

 

(39) Jesus aber fordert, dass wir uns denen, die uns Unrecht tun, nicht widersetzen sollen. Er macht das an vier Beispielen deutlich. Erstens: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“  Bei der Ohrfeige zählt nicht nur der Schmerz, sondern die damit verbundene Beleidigung. Und der Schlag auf die rechte Backe, der mit dem Handrücken ausgeführt wird, galt in Israel als eine besonders schwere Beleidigung. Daher wurde er schwerer bestraft als eine „normale Ohrfeige“. Bei den Rabbinen heißt es: „Wenn jemand seinem Nachbarn eine Ohrfeige gibt ..., so zahlt er 200 Sus als Wiedergutmachung ... Geschah es aber mit verkehrter Hand, so zahlt er 400 Sus. Warum das Doppelte? Der Schlag mit dem Handrücken schmerzt zwar weniger, gilt aber als Geste der Verachtung, die größeren Schimpf zufügt und zwiefach bloßstellt und beleidigt.“ (Baba Qama 8,5; T Baba Qama 9,31; zit. in: Lapide, 125) Aber was sagt Jesus? Biete deinem Gegner die linke Backe gratis obendrauf!

 

Erneut eine provozierende Aussage. Aber Jesus meint es ernst damit. In Jes.50,6, einem Text, den die erste Gemeinde als Vorhersage des Schicksals Jesu verstanden hat (Mt. 26,67), heißt es: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“

 

(40) Zweitens: „Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Hier geht es um einen verarmten und bis über beide Ohren verschuldeten Israeliten. Sein letztes Hab und Gut soll unter den Hammer kommen. Von seinem Gläubiger wird er buchstäblich bis aufs letzte Hemd ausgezogen. Beim Mantel ist jedoch die Grenze erreicht. Ein gepfändeter Mantel muss seinem ehemaligen Besitzer bis zum Abend zurückgegeben werden. Warum? Weil er ihm gleichzeitig als Decke dient. „Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfande nimmst, sollst du ihn wiedergeben, ehe die Sonne untergeht, denn sein Mantel ist seine einzige Decke für seinen Leib; worin soll er sonst schlafen? Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören; denn ich bin gnädig“ (2.Mose 22,25.26). Jesus aber ruft zum Verzicht auf das eigene Recht auf – und wenn es das letzte Recht, das Armenrecht, ist.

 

(41) Drittens: „Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ Wir ahnen schon: Hier geht es nicht um jemanden, der eigentlich keine Lust auf einen Spaziergang hat, der aber doch seinen „inneren Schweinehund“ überwindet, dem anderen den Gefallen tut – und am Ende sogar noch eine Extrarunde um den Block mitgeht. Gemeint ist die sog. „Angareia“ (von angareuō: „nötigen“) – eine Bestimmung, wonach Beamte oder Soldaten jeden X-beliebigen für Hilfsdienste in Anspruch nehmen konnten. (vgl. Luz, 293; Lapide, 116). So ist es z.B. Simon von Kyrene widerfahren, als er von den römischen Soldaten gezwungen wurde, das Kreuz Jesu nach Golgatha zu tragen (Mt.27,32). Den römischen Legionären ist es also erlaubt, ihren Sack und Pack jedem vorbeilaufenden Juden aufzuhalsen und ihn z.B. eine Meile (römisches Längenmaß: 1478,70 Meter) lang als Lasttier zu missbrauchen. Wenn aber die Meile um ist, hat er das Recht, dem Legionär sein Bündel vor die Füße zu werfen. Bis hierher und nicht einen Schritt weiter! Aber Jesus sagt: Du sollst dich diesem Recht der Besatzer nicht einfach – soweit es eben unvermeidlich ist – zähneknirschend beugen! Geh freiwillig mit! Und zwar doppelt so weit als nötig!

 

(42) Viertens: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“ Wir sagen: „Beim Geld hört die Freundschaft auf!“ Aber bereits im Alten Testament findet sich der Aufruf: Borg dem, der etwas braucht. Selbst wenn du es vielleicht nicht zurück bekommst. „Wenn einer deiner Brüder arm ist in irgendeiner Stadt in deinem Lande, das der HERR, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, soviel er Mangel hat. Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein arglistiger Gedanke aufsteige, dass du sprichst: Es naht das siebente Jahr, das Erlassjahr -, und dass du deinen armen Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst; sonst wird er wider dich zu dem HERRN rufen, und bei dir wird Sünde sein. Sondern du sollst ihm geben, und dein Herz soll sich´s nicht verdrießen lassen, dass du ihm gibst; denn dafür wird dich der HERR, dein Gott, segnen in allen deinen Werken und in allem, was du unternimmst. Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande“ (5.Mose 15,7-11). Auch hier fordert Jesus den Verzicht auf das eigene Recht. Er stellt selbst das Recht auf Eigentum in Frage.

 

Alle vier Beispiele sind konkret und anschaulich. Natürlich hätte Jesus auch andere Beispiele auswählen können. Es handelt sich daher erneut nicht um Lebensregeln, die in einem gesetzlichen Sinne Punkt für Punkt zu erfüllen wären. Es geht vielmehr um eine Lebenshaltung, bei der wir nicht zuerst und vor allem an unser gutes Recht denken, sondern trotz erfahrener Verletzungen von uns aus auf den Anderen zugehen und den Regelkreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen. Die Beispiele sollen unsere Phantasie anregen. „Sie sind gleichsam verdichtete Bilder für ein Verhalten, das es in allen Bereichen des Lebens zu entdecken und zu verwirklichen gilt. Insofern wollen diese Gebote zwar befolgt werden, aber nicht einfach wörtlich, sondern so, dass in neuen Situationen das, was sie fordern, in Freiheit, aber in ähnlicher Radikalität immer wieder neu zu ´erfinden´ ist.“ (Luz, 295)

 

Zusammenfassung:  Jesus plädiert für eine Grundeinstellung, die gegenüber dem Gegner nicht auf das eigene Recht pocht und den Feind nicht als Feind, sondern als Freund behandelt – und sei es mit eigenen Opfern verbunden. Diese Forderung wurzelt in der bedingungslosen Liebe Gottes zu allen Menschen.

 

 

6.5.5    Die Feindesliebe (5,43-48)

 

(5,43) Ihr habt gehört, dass gesagt ist (3. Mose 19,18): «Du sollst deinen Nächsten lieben» und deinen Feind hassen. (5,44) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, (5,45) damit ihr  Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (5,46)  Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? (5,47) Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? (5,48)  Darum sollt ihr  vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

 

(43-48) In der sechsten „Antithese“ fordert Jesus die Liebe zum Feind. Mit dieser Aussage erreichen die Beispiele für die „bessere Gerechtigkeit“ ihren Höhepunkt. Das wird auch daran deutlich, dass Jesus hier noch einmal betont, dass seine Nachfolger etwas „Besonderes“ leisten sollen (5,47) und sie zur Vollkommenheit aufruft (5,48). Eine besondere Verbindung besteht zur Aussage über die Vergeltung (Mt.5,38-42). Das wird durch einen Vergleich mit der Feldrede deutlich, in der beide Abschnitte eine Einheit bilden (Lk.6,27-35). Die Aussagen über die rechte Backe, den Rock, die zweite Meile und das Borgen können also als praktische Beispiele für die Liebe zum Feind verstanden werden. Daher haben wir es in der sechsten „Antithese“ mit einem Schlüsselbegriff der Ethik Jesu zu tun.

 

(43) „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben´ und deinen Feind hassen“. Selbstverständlich gibt es im Alten Testament kein Gebot mit dem Wortlaut „Du sollst deinen Feind hassen“. Lediglich in den Schriften der Qumran-Sekte findet man entsprechende Formulierungen. (Gnilka, 190f.; Greundmann, 176) Allerdings bezieht sich das alttestamentliche Liebesgebot ausdrücklich auf die eigenen Volksgenossen: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst ...“ (3.Mose 19,18). Deshalb lag es nahe, die Feinde aus dem Liebesgebot auszuschließen und auf diese Weise eine Hintertür für den Hass gegenüber den Feinden  zu öffnen. (Luz, 311) In Qumran wurde das Liebesgebot sogar auf die Angehörigen der eigenen Gruppe eingeschränkt. (Grundmann, 176)

 

(44) Jesus stellt dem sein Gebot der Feindesliebe gegenüber: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“. Was ist Feindesliebe? Die Beispiele der fünften „Antithese“ zeigen: Es geht hier nicht so sehr um Gefühle, sondern um das praktische Verhalten gegenüber dem Feind. Er wird nicht als Feind, sondern als Freund behandelt. An dieser Stelle fügt Jesus noch ein weiteres Beispiel hinzu: Die Fürbitte für den Verfolger. Auch das hat Jesus praktiziert. Noch am Kreuz betet er für seine Peiniger (Lk.23,34)

 

(45-47) Eine solch außergewöhnliche Forderung muss begründet werden. Jesus nennt zwei Gründe. Erstens: Wer diesen Weg geht, erweist sich dadurch als Kind Gottes. Warum? Weil Gott alle Menschen liebt. „... Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Zweitens: Nur die Liebe zum Feind geht über das Normale hinaus. Die eigenen Freunde zu lieben – das kann jeder. Menschen, denen man brüderlich verbunden ist, den Segensgruß (aspazomai: „grüßen;  meint hier den Segen spendenden Gruß,Lk.10,5.6) entgegenzubringen – was soll daran Besonderes sein?

 

(48) Zum Abschluss seiner beispielhaften Ausführungen zur „besseren Gerechtigkeit“ macht Jesus noch einmal deutlich, dass es ihm um hohe Ziele geht: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Was ist „Vollkommenheit“? In jüdischen Texten werden einzelne Fromme als „vollkommen“ bezeichnet (z.B. Noah: 1.Mose 6,9; Sir.44,17). In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, bezeichnet dieses Wort die „Ungeteiltheit des Herzens“ (z.B. 1.Kön.11,4). Das entspricht der Aussage, dass Gott seine Sonne aufgehen lässt „über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (5,45). Die Vollkommenheit Gottes, die Vorbild für die Nachfolger Jesu ist, besteht also in seiner ungeteilten Liebe zu allen Menschen. „Die anzustrebende Vollkommenheit des Menschen bestünde dann darin, dieses Ganz- und Ungeteiltsein nachzuahmen, also nicht in Perfektionismus und Elitestreben. In der ungebrochenen Liebe, die keinen Menschen ausschließt, findet dieses Streben seine Vollendung. Sie lässt den Menschen zum Kind Gottes werden. Es ist klar, dass der Mensch niemals das Maß Gottes erreicht. Aber in begrenztem Maß des Menschlichen soll der Mensch ein in seiner Liebe Ungeteilter sein.“ (Gnilka, 195)

 

Auch dieser Text hat der Kirche immer wieder viel Mühe bereitet. Allerdings galt dies nicht von Anfang an. In der nachapostolischen Zeit wird die Liebe zum Feind als Kennzeichen der Christen verstanden. So heißt es im zweiten Clemensbrief:  „Wenn sie nämlich von uns hören, dass Gott sagt: Ihr habt keinen Dank zu erwarten, wenn ihr liebt, die euch lieben, sondern ihn habt Dank zu erwarten, wenn ihr eure Feinde liebt und die euch hassen – wenn sie das hören, bewundern sie das Übermaß an Güte …“ (2.Cl.13,4). Daher überrascht es nicht, wenn die Kirche auch dem Kriegsdienst ablehnend gegenüberstand. So schreibt der Kirchenvater Origenes: „Wir greifen nicht mehr zum Schwert gegen ein Volk und wir lernen nicht mehr das Kriegführen, weil wir durch Jesus Söhne des Friedens geworden sind.“ (Contra Celsum V 33).

 

Mit der Konstantinischen Wende, durch welche das Christentum schließlich zur Staatsreligion erhoben wurde, aber begann eine andere Auslegungsgeschichte. Der Aufruf zur Feindesliebe wurde im Rahmen der Zwei-Stufen-Ethik (die Bergpredigt gilt nur für das Mönchtum; vgl. Einleitung) oder der Zwei-Reiche-Lehre (die Bergpredigt gilt nur für den persönlichen Lebensbereich des Christen, nicht aber als Maßstab für sein Handeln in der Welt; vgl. Einleitung) „entschärft“. Nur die religiösen Minderheiten (Waldenser, Franz von Assisi, Wiclif, Täufer, Quäker) versuchten, Jesus beim Wort zu nehmen und einen christlichen Pazifismus zu praktizieren. Auch der moderne Pazifismus hat die Bergpredigt wieder neu entdeckt – zum Teil gegen den Widerstand der Kirche. (vgl. LUZ, 298-304; 314.318)

 

Die Diskussion über die Feindesliebe kreist in der Regel um die Frage, ob ein solches Verhalten vernünftig, natürlich oder erfolgversprechend ist. Dabei wird übersehen, dass es Jesus in der Bergpredigt nicht um ein Programm zur Weltverbesserung ging, sondern Grundsätze des Reiches Gottes offenbart hat, das „nicht von dieser Welt“  ist (Joh.18,36). Christen haben die Aufgabe, der Welt die Botschaft vom Reich Gottes zu bringen. Sie wollen und können der Welt jedoch kein Regierungsprogramm an die Hand geben. Sie machen aber darauf aufmerksam, dass Krieg und Gewalt Zeichen einer unerlösten Welt sind und halten die Sehnsucht nach Frieden unter den Menschen aufrecht – in der Hoffnung, dass dieser Friede schon heute hier und da Wirklichkeit wird. Daraus folgt: „Für die Kirche ist nicht so entscheidend, dass ihre Pazifisten um ihres Überlebens willen auf verantwortliche Politik angewiesen sind, sondern dies, dass ihre Politiker um des Evangeliums willen auf christliche Pazifisten angewiesen sind.“(Luz, 304) 

 

Zusammenfassung: Jesus predigt die Liebe zu allen Menschen – auch zum Feind. Diese Forderung wurzelt in der bedingungslosen Liebe Gottes zu allen Menschen.

 

 

 

6.6    Wahre und falsche Frömmigkeit (6,1-18)

 

(6,1) Habt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.

(6,2) Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. (6,3) Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, (6,4)  damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

(6,5) Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. (6,6) Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und betezu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

(6,7) Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen .(6,8) Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

(6,9) Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. (6,10) Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. (6,11) Unser tägliches Brot gib uns heute. (6,12) Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. (6,13) Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

(6,14) Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. (6,15) Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

(6,16) Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. (6,17) Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, (6,18) damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.

 

(1) Jesus verlangt von seinen Nachfolgern eine „bessere Gerechtigkeit“ (Mt.5,20). Zugleich aber warnt er sie davor, ein elitäres Selbstbewusstsein zu entwickeln und zur Schau zu tragen. „Habt acht auf eure Frömmigkeit (wörtl.´Gerechtigkeit´), dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden …“. Wenn sie das dennoch tun, werden sie dafür am Jüngsten Tag nicht von Gott belohnt werden (Mt.5,12; 10,41f.).

 

Zur Verdeutlichung bringt Jesus drei Beispiele. Sie entsprechen sich weitgehend im Aufbau und sind durch die gleichen Gegensatzpaare geprägt: öffentlich – verborgen, Menschen – Vater, gegenwärtiger – zukünftiger Lohn.

 

(2) Das erste Beispiel beschäftigt sich mit dem Bereich der Wohltätigkeit. In Israel gab es eine vorbildliche öffentliche Armenfürsorge. „Almosenpfleger“ zogen Geld und Naturalien ein, um sie an Bedürftige weiterzugeben. Alle waren verpflichtet, sich an dieser Solidaritätsabgabe zu beteiligen. Gern gesehen waren natürlich auch zusätzliche freiwillige Spenden. Diese Spenden wurden i.d.R. im Synagogengottesdienst oder bei Fastengottesdiensten, die in der Öffentlichkeit stattfanden („auf den Gassen“), versprochen. Wer besonders viel gab, wurde dafür geehrt und durfte z.B. neben dem Rabbi sitzen.

 

In den Augen Jesu ist das eine Einladung zur Heuchelei. Die Spender rücken sich in ein gutes Licht, so dass ihre Schattenseiten im Verborgenen bleiben. Jesus sagt zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: „… Ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch aussehen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat“ (Mt.23,27). Hinzu kommt: Durch die öffentliche Anerkennung ihrer Mildtätigkeit haben sie „ihren Lohn schon gehabt“. Diese Redewendung entstammt der geschäftlichen Sprache und meint so viel wie „quitt sein“. Eine weitere Belohnung durch Gott steht ihnen nicht mehr zu.

 

(3f.) Die „bessere Gerechtigkeit“, von der Jesus spricht, soll nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit, sondern im Stillen, im Verborgenen, wirken. Der Ausdruck „lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“, lehnt sich vielleicht an ein Sprichwort an, in dem die Linke den besten Freund meint. (Grundmann, 194) Das Gute, das wir tun, sollen wir selbst vor unseren Freunden geheim halten. Gott sieht, was jenseits der großen Öffentlichkeit geschieht (vgl. Spr.24,12) und wird es am Jüngsten Tag vergelten (vgl. Mt.16,27). Die Pointe dieses Jesuswortes liegt aber nicht in der Aufforderung, geschickter zu rechnen und auf himmlischen Lohn zu spekulieren. Der Hinweis auf den Lohn Gottes dient hier als Gegenbild zur Suche nach Anerkennung von Menschen.

 

(5) Ähnlich das zweite Beispiel. Auch das Gebet kann zur Demonstration der Frömmigkeit missbraucht werden. Beim Synagogengebet ist vermutlich an das laute, freie Gebet gedacht, das Einzelne im Rahmen des Gottesdienstes sprechen konnten. Auch wenn ein Gebet „auf den Gassen“ verrichtet wird, ist das in den Augen Jesu ein Missbrauch für eigene Zwecke. Die Pharisäer kannten genaue Vorschriften für Gebetszeiten. Wenn sich nun jemand zur  vorgeschriebenen Zeit an einer Straßenkreuzung aufhielt, nahm er plötzlich die Gebetshaltung ein und wurde von den Umherstehenden unzweideutig als ein Frommer erkannt.

 

Aber auch hier gilt: Mit der öffentlichen Anerkennung hat er seinen „Lohn schon gehabt“. Er hat von Gott nichts mehr zu erwarten. Die beiden sind quitt. „Wer sich selbst oder den anderen Menschen in seinem Gebet zum Partner macht, verliert den wirklichen Partner des Gebets.“(Grundmann, 196).

 

(6) Stattdessen soll das Gebet im „Kämmerlein“ stattfinden. Gemeint ist die Vorratskammer des Hauses (tameion; vgl. Lk.12,24, Luther übersetzt dort „Keller“). Warum gerade die Vorratskammer? Weil sie der einzige abschließbare Raum im Hause ist. Dort, im Verborgenen, soll das Gebet zu Gott erfolgen. Schließlich ist Gott selbst im Verborgenen (Jes.45,15). „Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir´s vergelten.“ Damit ist, wie bei den Aussagen über das Almosengeben und das Fasten, der Lohn im göttlichen Gericht gemeint.

 

Der evangelische Theologe Karl Barth (1886-1968) bemerkt dazu: „Gebet geschieht grundsätzlich im ‚Kämmerlein‘, bei verschlossener Türe, im Verborgenen. Gebet ist die nur Gott zugewendete und insofern strikt die innere Seite des Lobes Gottes. Das gilt vom persönlichen wie vom gemeinsamen Gebet. Gebet als Glaubensdemonstration, Gebet als verkleidete Predigt, Gebet als Instrument der Erbauung ist ein heller Unfug, ist kein Gebet. Gebet ist kein Gebet, wenn man dabei einem Anderen als Gott etwas sagen will ...“ Für das öffentliche Gebet, z.B. im Gottesdienst, folgt daraus: „Wo es dem Menschen allein um Gott geht, da weiß er, dass er keiner fremden Kunst bedarf, da wird er mit aller seiner sonstigen Kunst geradezu kapitulieren müssen. Da zählt nur Eines: dass es ihm wirklich um Gott, um ein an ihn adressiertes Bitten gehe. Da darf also auch einfach geseufzt, gestammelt und gebrummt werden: wenn es nur ein Bitten ist, das vor Gott gebracht wird, so wird er es wohl hören und verstehen, so wird es als Rechtes, als das von ihm geforderte Gebet, als Tat des Gehorsams wohl angenommen sein und vor der erhabensten Liturgie, die diese Bedingung nicht erfüllte, schlechterdings im Vorsprung sein.“(KD III/4, 96f.)

 

(7-15) Bevor Jesus das dritte Beispiel nennt, folgen weitere Ausführungen zum Gebet – vermutlich deshalb, weil das Gebet im Mittelpunkt aller Frömmigkeit steht.

 

(7f.) Zunächst warnt Jesus davor, beim Beten zu „plappern“. Dieser Terminus ist von „stottern“ abzuleiten. Gemeint ist wohl ein Lallen sinnloser Silben. Ein solcher Eindruck entsteht vor allem bei heidnischen Gebeten, in denen Gottesbezeichnungen oder Zauberworte in beschwörender Weise fortwährend wiederholt werden (z.B. Apg.19,34), um auf diese Weise auf Gott einzuwirken. Für Christen aber sind lange und beschwörende Gebete nicht notwendig, sondern eher schädlich. Gott weiß, was wir brauchen, bevor wir ihn bitten.

 

(9-13) Als „Alternative“ zum Plappern stellt Jesus das Vaterunser vor. Das Vaterunser ist ein entscheidender Ausdruck christlicher Frömmigkeit. Im Gottesdienst und im persönlichen Glaubensleben vieler Christen nimmt es einen zentralen Platz ein. Lediglich im Pietismus (Erweckungsbewegung des 17. Jahrhunderts) verlor das Vaterunser etwas an Bedeutung, weil dort das frei formulierte Gebet als reiferer Ausdruck der Frömmigkeit betrachtet wurde.

 

Das Vaterunser lässt sich in zwei Hauptteile untergliedern. In den ersten drei Bitten beten Menschen darum, dass sich die Sache Gottes durchsetzt. Diese Bitten stehen in der 2. Person Singular („Du-Bitten“). Die anschließenden Bitten sind in der 1. Person Plural formuliert („Wir-Bitten“). In ihnen sollen die Beter ihre persönlichen Angelegenheiten vor Gott bringen.

 

(9) Im Vaterunser zeigt er, was rechtes Beten ist. Es beginnt damit, dass Gott als „Vater“ angeredet wird. Vermutlich hat Jesus hier, wie an anderer Stelle (Mk.14,36), das aramäische Wort „Abba“ benutzt. Diese Gebetsanrede ist im rabbinischen Judentum nicht nachweisbar. Daher handelt es sich hier um eine Besonderheit der Verkündigung Jesu. Gott als „Abba“ anzureden war offenbar so typisch für Jesus, dass diese Anrede sogar von den griechischsprechenden Gemeinden übernommen wurde (Röm.8,15; Gal.4,6). „Abba“ ist ein in der Sprache des Kleinkindes beheimatetes Lallwort und bedeutet so viel wie „lieber Vater“ oder sogar „Papa“. So vertrauensvoll, wie ein Kind zu seinen Vater kommt, können und sollen wir Gott im Gebet ansprechen. Mit dieser Anrede will Gott uns, wie Martin Luther es im „Kleinen Katechismus“ ausdrückt, „locken, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf das wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“

 

Dieser Vater ist im Himmel (wörtlich: „in den Himmeln“, vgl. 2.Kor.12,2), also an dem Ort, von dem aus die Geschicke dieser Welt regiert werden. „Er (Gott) thront über dem Kreis der Erde, und die darauf wohnen, sind wie Heuschrecken; er spannt den Himmel aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt, in dem man wohnt“ (Jes.40,22). „Der himmlische Vater ist der Gott, der, ungehemmt durch irdische Schranken, alles weiß, alles vermag und darum allen zugänglich ist.“ (ThWNT V, 520).

 

Ihren Vater im Himmel soll die Gemeinde als Erstes um die Heiligung seines Namens bitten. In biblischer Zeit sind Namen nicht „Schall und Rauch“. Das gilt insbesondere für den Namen Gottes. Zwischen dem Namen Gottes und Gott selbst besteht eine wesensmäßige Verbindung. Er nennt nicht bloß Eigenschaften Gottes – in seinem Namen ist Gott selbst gegenwärtig, ja er ist Gott selbst. So kann David in Ps.20,2 formulieren: „Der HERR erhöre dich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich!“ Dieser Vers ist in Form eines „synonymen Parallelismus“ aufgebaut, in dem beide Satzhälften inhaltlich dasselbe aussagen. „Der HERR“ und „der Name des Gottes Jakobs“ sind ein und dasselbe.

 

Wenn vom Namen Gottes die Rede ist, wird die Nähe Gottes zu den Menschen besonders betont. Gott wohnt im Himmel. Daher betet Mose: „Sieh nun herab von deiner heiligen Wohnung, vom Himmel ...“ (5.Mose 26,15). Mit seinem Namen aber wohnt Gott unter den Menschen. So sollen die Israeliten mit ihren Opfern an die Stätte gehen, „die der HERR, dein Gott erwählen wird, dass sein Name daselbst wohne“ (5.Mose 26,2; vgl. 5.Mose 12,5.11.21; 14,23; 16,2.11). Der Name Gottes ist also die Seite Gottes, die er den Menschen zugewandt hat. Er gibt den Menschen Schutz. So bittet David: „Hilf mir, Gott, durch deinen Namen ...“ (Ps.54,3). Und in den Sprüchen heißt es: „Der Name des HERRN ist eine fest Burg; der Gerechte läuft dorthin und wird beschirmt“ (Spr.18,10).

 

Von wem soll nun der Name Gottes geheiligt werden? Und auf welche Weise? Aufgrund ihrer Ehrfurcht vor dem heiligen Gottesnamen benutzte das zeitgenössische Judentum Umschreibungen Gottes (z.B. Himmel). Dazu gehört auch der Gebrauch des Passivs („werde geheiligt“). Gott selbst soll also seinen Namen heiligen. In diesem Sinne heißt es beim Propheten Hesekiel: „Denn ich will meinen großen Namen, der vor den Heiden entheiligt ist, den ihr unter ihnen entheiligt habt, wieder heilig machen …“ (Hes.36,23). „Und ich will meinen heiligen Namen kundmachen unter meinem Volk Israel und will meinen heiligen Namen nicht länger schänden lassen, sondern die Heiden sollen erfahren, dass ich der HERR bin, der Heilige in Israel“ (Hes.39,7). Wann und wie wird Gott seinen Namen heiligen? Dazu gibt die hier gewählte Verbform des Aorist einen wichtigen Hinweis. Der Aorist drückt ein einmaliges Geschehen aus. Es geht also um das einmalige Ereignis der Wiederkunft Jesu, durch das Gott am Ende der Zeiten „alles in allem“ sein wird (1.Kor.15,28) und bei dem sich zur Ehre Gottes alle Knie beugen werden (Phil.2,9-11). Die Heiligung seines Namens ist also Gott eigenes Werk, dass er am Ende der Zeiten zum Abschluss bringt. Das dies bald geschieht, ist die Bitte der Gemeinde (z.B. Off.6,10)

 

(10) Ähnlich die zweite Bitte: „Dein Reich komme.“ Gemeint ist das zukünftige Reich Gottes, in dem die Herrschaft Gottes und sein Heil sich auf der ganzen Linie durchgesetzt haben. Dann wird es heißen: „… Es sind die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Off.11,15). „… Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat das Reich eingenommen“ (Off.19,6). Das geschieht beim zweiten Kommen Jesu: „So ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweitenmal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil“ (Hebr.9,28). Deshalb lautet die Bitte der Urchristenheit: „Maranatha“ – „Unser Herr, komm!“ (1.Kor.16,22; vgl. Off.22,20).

 

Auch in der dritten Bitte geht es darum, dass sich die Sache Gottes endgültig durchsetzt. „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Im Himmel hat sich der Wille Gottes schon durchgesetzt. Satan ist vom Himmel gefallen. Jesus selbst offenbart seinen Jüngern: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lk.10,18). In der Offenbarung des Johannes wird dieses Ereignis noch ausführlicher geschildert: „Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht, und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen“ (Off.12,7-9). Im Himmel hat Gottes Wille gesiegt. Auf Erden aber tobt jedoch noch ein Kampf zwischen Satan und den Kindern Gottes. Daher setzt die Offenbarung des Johannes ihren Bericht mit dem Hinweis fort: „Darum freut euch, ihr Himmel und die darin wohnen! Weh aber der Erde und dem Meer! Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat“ (Off.12,12). Deshalb betet die Gemeinde darum, dass Gottes Wille sich auch auf Erden durchsetzt.

 

(11) Mit der vierten Bitte beginnen die „Wir-Bitten“, in denen die Nachfolger Jesu ihre persönlichen Anliegen vor Gott bringen. Dazu gehört zunächst die Bitte um Brot, d.h. um das, was wir für unser Leben brauchen. Das Wort, dass Luther mit „täglich“ übersetzt hat, findet sich in der Bibel nur an dieser Stelle und ist auch in der Umwelt in dieser Form nicht gebräuchlich. Daher ist bis heute nicht mit Gewissheit zu entscheiden, ob es „heutige“ oder das „für den kommenden Tag“ bestimmte Brot bezeichnen soll. Daher ist folgende Übersetzung sinnvoll: „Das Brot, das wir brauchen, gib uns heute.“ (ThWNT II, 595).

 

(12) Hinzu kommt die Bitte um Vergebung. „Und  vergib uns unsere Schuld …“ Wann soll das geschehen? Wie die Brotbitte richtet sich auch diese Bitte auf die Gegenwart. Jesus hat die Macht, hier und heute Sünden zu vergeben. Er spricht zu einem gelähmten Mann: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“ (Mt.9,3). Und den umherstehenden Schriftgelehrten ruft er zu: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden die Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim!“ (Mt.9.6). Deshalb sollen und dürfen Nachfolge Jesu um die Vergebung ihrer Schuld bitten.

 

Die Vergebung ist allerdings an eine Voraussetzung gebunden: Wir dürfen die Bitte um Vergebung gegenüber Gott nur dann aussprechen, wenn wir unsererseits ebenfalls denen, die an uns schuldig geworden sind, vergeben haben. Die göttliche Vergebung und unsere Vergebungsbereitschaft gegenüber unseren Mitmenschen gehören zusammen (Mt.18,21-35).

 

(13) Das Gebet schließt mit der Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“  Sollen wir also Gott darum bitten, dass er uns nicht versucht? Der zweite Satzteil macht deutlich, dass die Versuchung von Satan, „dem Bösen“ (Mt.13,19.38f.) kommt. „Führe uns nicht in Versuchung“ bedeutet also: Gott soll veranlassen, dass wir nicht in die Versuchung durch den Teufel gelangen.

 

Welche Versuchung ist gemeint? Geht es um Versuchungen des Teufels, die wir im Alltag erfahren („die zarteste Versuchung“ etc.) Oder geht es um eine besondere Versuchung? Das Wort Versuchung (griech.: peirasmos) wird an keiner Stelle des Neuen Testaments für „alltägliche Versuchungen“ gebraucht. Vor allem die Verfolgung um des Glaubens willen wird als Versuchung bezeichnet (Lk.8,13 – Mk.4,17; Apg.20,19; 1.Petr.1,6; 4,12.13). In diesem Sinne spricht die Bibel darüber hinaus von einer außergewöhnlichen Versuchung der Endzeit, von einer „…Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen“ (Off.3,10; vgl. 1.Kor.10,11-13). Auch das Verb „erlösen“ (griech.: rhyomai) deutet in diese Richtung. Es steht im Aorist und beschreibt daher eine einmalige punktuelle Handlung. Es geht also um die endgültige Befreiung von der Macht des Satans am Ende der Zeiten. Ziel der sechsten Bitte ist es also, nicht in die endzeitlichen Verfolgung und Versuchung durch den Teufel zu gelangen (vgl. die Bitte Jesu in Mk.14,36).

 

Der abschließende Lobpreis findet sich nur in einem Teil der Handschriften des Matthäusevangeliums. Allerdings mündeten damals nahezu alle Gebete in einen Lobpreis. Deshalb mag Matthäus den Lobpreis an dieser Stelle für so selbstverständlich gehalten haben, dass er seine Niederschrift für überflüssig ansah. Die von späteren Handschriften überlieferte Fassung weist Ähnlichkeit mit anderen Formeln des Lobpreises auf (z.B. 1.Chr.29,11; Off.4,10; 12,10). Sie knüpft an die letzte Bitte an. Angesichts der Herrschaft Gottes, seiner Kraft und Herrlichkeit, muss die Macht des Bösen vergehen.

 

(14f.) Nach Abschluss des Vaterunsers wird der Gedanke der fünften Bitte noch einmal wiederholt (6,12). Damit wird deutlich, wie wichtig es Jesus ist, dass das Verhältnis zum Mitmenschen nicht von der Beziehung zu Gott getrennt wird.

 

(16) In seinem dritten Beispiel nimmt Jesus zur Fastenpraxis Stellung. Gemeint ist hier nicht das gemeinschaftliche Fasten (z.B. am großen Versöhnungstag, 3.Mose 16,29), sondern das private Fasten des Einzelnen, durch das er sich von seinen Mitmenschen heraushebt. Die Pharisäer fasteten am zweiten und fünften Tag der Woche (vgl. Lk.18,12). Neben der Einschränkung der Nahrung gehörte dazu das Anlegen eines sackartigen Kleides, das Bestreuen des Hauptes mit Asche, der Verzicht auf Waschung und Salbung des Körpers, das Barfußgehen usw. (vgl. 2.Sam.12,20ff.). Auf diese Weise wird der Fastende von seiner Umwelt eindeutig als Fastender erkannt. Daher gilt auch hier: „Sie haben ihren Lohn schon gehabt“.

 

(17f.) Im Gegensatz dazu ruft Jesus die Fastenden dazu auf, sich so zu verhalten, dass man von ihrem Fasten nichts bemerkt. Sie sollen ihr Haupt salben. Dies geschah bei freudigen Anlässen (Ps.23,5; 45,8; Jes.61,3). Wenn also jemand sein Haupt gesalbt hat, wird niemand auf die Idee kommen, dass er gerade fastet. Wie das Gebet sich ausschließlich an Gott richtet, so geschieht auch wahres Fasten vor Gott. Er sieht in das Verborgene und wird es vergelten.

 

Zusammenfassung:  Nachfolger Jesu leben ihren Glauben im Angesicht Gottes und stellen ihn nicht vor den Menschen zur Schau. Gott ist unser lieber Vater. Deshalb dürfen wir uns im Gebet vertrauensvoll an ihn wenden. Unsere vorrangige Bitte soll es sein, dass die Sache Gottes sich endgültig durchsetzt. Zugleich dürfen wir unsere persönlichen Anliegen im Gebet vor Gott bringen. Neben den Dingen des Alltags gehört dazu vor allem die Bitte um Vergebung der Schuld. Voraussetzung für die Erfüllung dieser Bitte ist die Vergebungsbereitschaft gegenüber unseren Mitmenschen. Schließlich dürfen wir darum bitten, vor (bzw. in) der endzeitlichen Versuchung bewahrt zu werden.

 

 

 

6.7    Vom Schätzesammeln und vom Sorgen (6,19-34)

 

6.7.1    Vom Schätzesammeln (6,19-24)

 

(6,19) Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. (6,20) Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. (6,21) Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. (6,22) Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. (6,23) Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein! (6,24) Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.          

 

Die „bessere Gerechtigkeit“, die Jesus fordert, ist keine Sache frommer Selbstdarstellung (6,1-18). Dazu gehört, dass sich niemand in der Öffentlichkeit als Wohltäter feiern lassen soll (6,2-4). Das bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf Wohltätigkeit. Im Gegenteil: Beim Umgang mit materiellen Dingen steht die Menschlichkeit des Menschen und seine Beziehung zu Gott auf dem Spiel.

 

(19) Jesus spricht sich gegen das Anhäufen irdischer Reichtümer aus. Zur Begründung appelliert er an den gesunden Menschenverstand: Weil sie dem Verfall ausgesetzt sind, macht das Sammeln von Schätzen keinen Sinn. Kleider – auch für die Frauen des Orients ein wichtiger Ausdruck des eigenen Wohlstandes – werden von Motten zerfressen. Andere Reichtümer sind vom Fraß bedroht (Lutherübersetzung: „Rost“). Gemeint ist vermutlich der Holzwurm. Er zerstört die Kisten, Truhen und Schränke, in denen die verschiedensten Schätze aufbewahrt werden. Und außerdem sind da noch die Diebe. Das Motto „ Wie gewonnen, so zerronnen“ bewahrheitet sich. Deshalb macht das Ansammeln von Reichtümern keinen Sinn.

 

(20) Sinn macht dagegen das Sammeln von Schätzen im Himmel. Zur Zeit Jesu betrachtete man die guten Werke des Frommen – und dazu gehörte vor allem seine Wohltätigkeit – als einen Schatz, der  bei Gott im Himmel aufgehoben und beim Jüngsten Gericht ausgezahlt wird. (ThWNT, III, 137). So heißt es im apokryphen Buch Tobias: „Mit deinem Hab und Gut hilf den Armen und wende dich auch nicht von einem einzigen ab, dann wird sich das Angesicht des Herrn auch vor dir nicht abwenden. Wo du   kannst, da hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich; hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen. Denn so wirst du dir einen guten Lohn für den Tag der Not sammeln. Denn Almosen erlösen von allen Sünden, auch vom Tode, und lassen die Seele nicht in die Finsternis geraten. Almosen schaffen große Zuversicht vor dem höchsten Gott“ (Tobias 4,7-12). Durch Wohltätigkeit sammelt man sich einen himmlischen „Lohn“, bzw. einen „Schatz im Himmel“. Das dies auch die Auffassung Jesu ist, wird durch einen Blick auf die Parallele im Lukasevangelium noch deutlicher: „Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht veralten, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb hinkommt und den keine Motten fressen“ (Lk.12,33). Hier ist sogar von „Geldbeuteln“ im Himmel die Rede, die durch das Geben von Almosen gefüllt werden. Weil dieser Schatz nicht vom Verfall bedroht ist, zahlt sich Wohltätigkeit aus.

 

(21) Die eigentliche Begründung folgt jedoch erst in Vers 21: „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“  „Herz“ meint nicht nur das Gefühl. Mit diesem Begriff kann das ganze innere Wesen des Menschen zusammengefasst werden. Es geht darum, was den Menschen ausmacht, wo seine Mitte ist, wohin er ausgerichtet ist. „Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens …“ (Mt.12,35). Jesus sagt: Dort, wo wir unsere Reichtümer haben, wird automatisch auch der Mittelpunkt unseres Lebens sein. Haben wir irdische Schätze, so wird all unser Denken und Handeln damit beschäftigt sein. Ist unser Schatz jedoch im Himmel, so wird Gott unser Leben bestimmen. Das Anliegen Jesu ist also nicht, uns durch die Verheißung eines zukünftigen Lohns zur Wohltätigkeit anzuspornen. Er möchte zeigen, dass unser Umgang mit dem Besitz entscheidende Bedeutung für die Ausrichtung unseres Lebens hat.

 

(22f.) Warum ist unser Umgang mit materiellen Dingen so entscheidend für unser Menschsein? Der Charakter eines Menschen spiegelt sich in seinen Augen. Diese Einsicht wird z.B. in apokryphen und pseudoepigraphen Schriften (jüdische Schriften, die um die Zeitenwende entstanden und eine alttestamentliche Gestalt als ihren Verfasser angeben) ausgedrückt: „Was einer im Sinn hat, das sieht man ihm an den Augen an, es sei Gutes oder Böses“ (Sir.13,.31, Luther). „Der gute Mann hat kein finsteres Auge; denn er erbarmt sich aller …“ (TestBenj. 4,2). Im Auge zeigt sich also das Wesen des ganzen Menschen. Wer ein lauteres Auge, einen offenen Blick, hat, ist ein guter Mensch. Wer jedoch den „bösen Blick“ hat, ist ein böser Mensch. Wenn daher das Auge, das Licht des Leibes, bei einem Menschen finster ist, haben wir es wirklich mit einem „finsteren Gesellen“ zu tun.

 

Woran entscheidet sich nun, ob jemand ein gutes oder ein böses Auge hat? Die Aussage des Buches Sirach, dass man es einem Menschen an den Augen ablesen kann, ob er Gutes oder Böses im Sinn hat, steht im Zusammenhang mit der Frage des Reichtums: „Reichtum ist nur dann gut, wenn keine Sünde an ihm klebt, und allein der Gottlose nennt die Armut böse“ (Sir.13,30). Für den Autor des Testaments Benjamins entscheidet die Barmherzigkeit eines Menschen über sein Auge (s.o.). Auch in den Sprüchen Salomos wird ein solcher Zusammenhang gesehen: „Wer ein gütiges Auge hat, wird gesegnet; denn er gibt von seinem Brot den Armen.“ (Spr.22,9; vgl. Mt.20,15). Daher lautet die Botschaft Jesu: „Wenn es mit deinem Handeln, deinem Gehorsam, besonders deiner Freigebigkeit nicht stimmt, ist die Finsternis total.“ (Luz, 361)

 

(24) Deshalb macht Jesus seinen Zuhörern deutlich, dass sie sich entscheiden müssen. Der gesunde Menschenverstand führt zu der Einsicht: Ein uneingeschränkter Dienst kann nur auf einen Herrn gerichtet sein. Gott fordert uneingeschränkten Gehorsam. Das jüdische Glaubensbekenntnis sagt: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5.Mose 6,4.5). Deshalb gilt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“  Das Wort „Mammon“ kommt aus dem Aramäischen und bedeutet so viel wie Geld und Besitz (vgl. Lk.16,9.11.13). Jesus fordert hier nicht die völlige Trennung von Geld und Gut. Ihm geht es darum, wem ein Mensch dient. Wer die Herrschaft Gottes anerkennt, kann nicht auf der anderen Seite  ein Diener des ökonomischen Prinzips sein. „Die Verfallenheit unter irdischen Besitz ist mit dem Dienst der Gemeinde Jesu nicht in Einklang zu bringen.“ (Strecker, 139f.).  Nachfolger Jesu üben Freigebigkeit.

 

Zusammenfassung:  Weil der Umgang mit Geld und Besitz den Charakter unseres Menscheins prägt, ruft Jesus zur Wohltätigkeit auf. Hier ist jeder Mensch vor die Entscheidung gestellt: Gott oder Geld?

 

 

6.7.2    Von der Sorge (6,24-34)

 

(6,25) Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? (6,26) Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? (6,27) Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? (6,28) Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. (6,29) Ich sage euch, dass auch  Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. (6,30) Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? (6,31) Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? (6,32) Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. (6,33) Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. (6,34) Darum sorgt nicht für morgen, denn  der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

 

Der Umgang mit Geld und Besitz prägt unseren Charakter. Deshalb müssen wir uns entscheiden: Entweder wir dienen Gott, oder wir dienen dem Geld (Mt.6,19-24). Dabei geht es aber nicht nur um eine Änderung unseres Verhaltens, sondern um eine neue Einstellung zum Leben.

 

(25) Im Mittelpunkt des Abschnitts steht der Begriff „Sorge“. Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.“ Leonhard Ragaz (1868-1945), einer der Gründerväter der Bewegung für einen religiösen Sozialismus, unterscheidet in seiner Auslegung der Bergpredigt zwischen richtiger und falscher Sorge: „Die Sorge, von der uns Jesus erlösen will, ist nicht die Sorge als Fürsorge, auch nicht die Sorge als Bürde, die wir zu tragen haben, die Sorge als Schicksal oder Schickung, sondern die Sorge als ´Macht´, die Sorge als Götze und Mutter der Götzen, die Sorge als die Angst der Welt … Man will dann sich oder Andere sichern durch Anhäufung von Sicherheiten.“ (Ragaz, 142f.). Das entspricht der Auffassung Jesu: Was das sachgemäße Sorgen zu einem törichten macht, „ist … die Angst und der in der Verblendung dieser Angst entstehende Wahn, durch die Lebensmittel, um die man sich sorgt, das Leben selbst sichern zu können.“ (ThWNT, IV, 596). Das führt dazu, dass das ganze Denken und Handeln des Menschen von der Frage nach Essen, Trinken und Kleidung bestimmt wird.

 

In der Begründung, die er für seine Warnung vor der Sorge gibt, stellt Jesus fest, dass unser Leben mehr ist als Nahrung und Kleidung (vgl. Lk.12,22.23). Daher besteht die Gefahr, „dass einer in seiner Sorge gar nicht zum eigentlichen Leben kommt.“ (Gnilka, 247). In diesem Sinne heißt es im Buch Sirach: „… Denn viele tötet die Sorge, und Verdruss hat keinen Wert … Schlaflosigkeit wegen des Reichtums zehrt am Fleisch, die Sorge um ihn nimmt den Schlummer. Die Sorge um den Lebensunterhalt verscheucht den Schlummer, mehr als schwere Krankheit vertreibt sie ihn“ (Sir.30,23; 31,1.2; Einheitsübersetzung). Weil unser Leben mehr ist als Nahrung und Kleidung, ist der Versuch der Lebenssicherung durch Lebensmittel von vornherein zum Scheitern verurteilt.

 

(26) Außerdem ist die Sorge um unser tägliches Brot überflüssig. Zur Begründung verweist Jesus auf die Vögel. In ihrer Sorge um ihr Auskommen entfalten Menschen eine Reihe verschiedenster Aktivitäten: Sie säen, sie  ernten, sie sammeln die Ernte in Scheunen. Die Vögel aber tun nichts dergleichen. Aber weil Gott für sie sorgt, gehen sie trotzdem nicht zugrunde. Damit ist nicht gemeint, dass die Menschen zum Stadium des Jägers und Sammlers zurückkehren sollen. Es geht ihm um einen Vergleich zwischen dem Großen und dem Kleinen: Wenn Gott für die Vögel sorgt, dann wird er erst recht für euch sorgen, die ihr Ebenbilder Gottes seid (1.Mose 1,27). Deshalb mögt ihr zwar durchaus säen und ernten. Aber ihr habt keinen Grund, euch vor Sorge zu verzehren.

 

(27) Es folgt ein weiteres Argument gegen die Sorge: „Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ Unsere Lebenszeit steht fest: „Sind seine (des Menschen) Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann, so blicke doch weg von ihm …“ (Hiob 14,5). „Gott hat die Menschen aus Erde geschaffen und sie wieder zur Erde zurückkehren lassen; er bestimmte ihnen die Zeit ihres Lebens …“ (Sir.17,1-3). Deshalb ist die Sorge um das Leben sinnlos. Der Neutestamentler Georg Strecker kommt daher zu den Schluss: „Wie sehr man sich – in neuerer Zeit mit modernen medizinischen Hilfsmitteln sogar nicht ohne vordergründigen Erfolg – um eine Lebensverlängerung auch bemühen mag, das von Gott zugewiesene Maß kann nicht überschritten und der Tod durch solche Sorge nicht beseitigt werden. Daher steht über solchem Bemühen letztlich das Urteil: vergeblich!“ (Strecker, 143)

 

(28-30)  Als weiteres Beispiel zieht Jesus die Lilien heran. Es dient dazu, die Sorge um die Kleidung in Frage zu stellen. Nachdem im vorangegangenen Beispiel die männliche Lebenswelt des Ackerbaus angesprochen wurde, steht jetzt die Welt der Hausfrau im Mittelpunkt. Im Unterschied zu ihr müht sich die Lilie nicht um ihre Kleidung. Dennoch ist sie schöner anzusehen, als es der prächtige König Salomo je gewesen ist (1.Kön.10,4ff; 2.Chr.9,13ff.). Und das, obwohl es sich bei der Lilie um eine Feldblume handelt, die den armen Leuten – zusammen mit anderen Feldgewächsen – als Brennmaterial dient. Ihr ergeht es wie dem Stroh. Erneut bringt Jesus hier einen Vergleich zwischen dem Großen und dem Kleinen: Wenn Gott der Lilie, die am Ende einfach Heizmaterial ist, eine solche Schönheit verleiht, wie viel mehr wird er dann für unsere Kleidung sorgen. Wer daran noch zweifeln kann, ist ein „Kleingläubiger“. Er ist kein ungläubiger Atheist. Er weiß um Gott. Aber es mangelt ihm an Vertrauen zu ihm (Mt.8,26; 14,31).

 

(31) Nach diesen eindrucksvollen Beispielen kehrt Jesus mit einer Schlussfolgerung zu seiner zu Beginn erhobenen Forderung zurück: Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? (32) Nur die Heiden, d.h. Ungläubige, sind in ihrem Denken und Handeln ganz von der Sorge um ihr Auskommen bestimmt. Nachfolger Jesu aber haben einen Vater im Himmel. Er weiß, was sie zum Leben brauchen (6,7f.).

 

(33) Während die Heiden aufgrund ihres Unglaubens ganz von der Sorge um materielle Dinge in Anspruch genommen werden, stehen für Nachfolger Jesu das Reich Gottes und die Gerechtigkeit im Mittelpunkt ihres Lebens. Das Reich Gottes ist das zukünftige Reich Gottes, das beim zweiten Kommen Jesu anbricht und Gegenstand einer Bitte des Vaterunsers ist (6,10). Mit der Gerechtigkeit des Reiches Gottes ist das Handeln gemeint, das dem Reich Gottes entspricht – die „bessere Gerechtigkeit“: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (5,20). Darauf kommt es an. Alles andere ist zweitrangig.

 

Ein wichtiger Grund dafür, weshalb Nachfolger Jesu dem Reich Gottes die erste Stelle in ihrem Leben einräumen, besteht darin, dass sie sich um die anderen Dinge keine Sorgen zu machen brauchen. Sie werden erhalten, was sie zum Leben brauchen: „…, so wird euch das alles zufallen“ (wörtl.: „und das alles wird euch hinzugefügt werden“). An dieser Stelle braucht Jesus die passive Verbform („hinzugefügt werden“), die im Judentum seiner Zeit häufig benutzt wurde, um das Wirken Gottes zu beschreiben, ohne dabei seinen Namen auszusprechen. Wer sich also für die Sache Gottes einsetzt, wird von ihm alles erhalten, was er zum Leben benötigt. Nach der Begegnung mit dem reichen Jüngling erklärt Jesus seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben“ (Mk.10,29.30). Deshalb gilt: „Nur die Sorge für Gott macht frei von der Sorge der Welt.“ (Ragaz, 145)

 

(34) Dieser letzte Gedanke, dass denen, für die das Reich Gottes oberste Priorität ist, alles andere zufällt, wird abschließend noch einmal mit Erfahrungen aus dem Alltag unterstrichen. Jeder Tag hat „seine eigene Plage“. Immer wieder stehen wir vor veränderten Situationen und Herausforderungen. Morgen schon kann alles ganz anders aussehen. Über Nacht ändern sich die Dinge. Probleme können sich einfach in Luft auflösen. Der morgige Tag sorgt für sich selbst. Das ist natürlich kein Zufall, sondern das Eingreifen Gottes.

 

Daher werden Nachfolger Jesu nicht von der Sorge bestimmt, sondern stellen das Reich Gottes an die erste Stelle in ihrem Leben.

 

Zusammenfassung:  Unser Leben ist mehr als Nahrung und Kleidung. Außerdem sorgt Gott für uns. Deshalb sollen sich Nachfolger Jesu nicht von der Sorge um ihr Auskommen, sondern vom Reich Gottes und der „besseren Gerechtigkeit“ in Anspruch nehmen lassen.

 

 

6.8    Vom Richten (7,1-6)

 

(7,1) Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. (7,2) Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. (7,3) Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? (7,4) Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. (7,5) Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. (7,6) Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.

 

Mit Jesu Worten über das Richten beginnt ein neuer Abschnitt. Während es zuvor vor allem um die rechte Gottesbeziehung ging (Mt.6,1-34), steht jetzt das Verhalten gegenüber dem Mitmenschen im Mittelpunkt. Damit knüpft die Bergpredigt wieder an die „Antithesen“ (Mt.5,21-48) an. Das wird auch durch einen Vergleich mit dem Lukasevangelium deutlich. In der dortigen Feldrede steht der Abschnitt über das Richten (Lk.6,37-42) direkt im Anschluss an den Aufruf zur Feindesliebe (Lk.6,27-35).

 

(1) Jesus untersagt seinen Hörern, über andere Menschen zu richten und droht dabei mit dem Gericht. In den Seligpreisungen hat Jesus den Barmherzigen verheißen, dass sie im göttlichen Gericht Barmherzigkeit erlangen (Mt.5,7). Wenn die Richtenden gerichtet werden, so ist damit erneut das Jüngste Gericht gemeint. Die passive Verbform („gerichtet werden“) wird im zeitgenössischen Judentum zur Umschreibung des Gottesnamens gebraucht. Wer unbarmherzig ist und über andere Menschen richtet, verfällt dem göttlichen Gericht (vgl. Lk.6,36ff.).

 

(2) Warum wird das geschehen? Jesus sagt: Jeder von euch wird einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Dort wird Gott euch so richten, wie ihr eure Mitmenschen gerichtet habt. Luther übersetzt: „… nach welchem Recht ihr richtet …“. Im Grundtext steht an dieser Stelle das Wort „krima“. Es meint einen richterlichen Beschluss, ein Urteil. Die von uns gefällten Urteile werden also auf uns selbst zurückfallen.

 

Das zweite Bild, das Bild vom Maß entstammt der Handelssprache. In Kaufverträgen aus der Zeit Jesu findet sich der Ausdruck „… mit dem Maß, mit dem du für mich gemessen hast“. Er besagt, dass für die empfangene Ware genau die gleiche Waage oder das gleiche Längenmaß verwendet wurde, wie für die im Ausgleich gelieferte Ware. Bereits die Rabbiner benutzten dieses Bild für das Endgericht: „Mit dem Maß, mit welchem ein Mensch misst, misst man (= Gott) ihm.“ (Sota 1,7, zit. bei Gnilka, 256).  

 

Im Gericht wird Gott die Maßstäbe, die wir an andere Menschen angelegt haben, an uns selbst anlegen. An anderer Stelle verdeutlicht Jesus diesen Grundsatz mit Hilfe eines Gleichnisses: Ein König erlässt einem total verschuldeten Knecht alle seine Schulden. Der aber lässt einen Knecht, der ihm eine vergleichsweise geringe Summe schuldet, ins Schuldgefängnis werden. Als der König davon erfährt, zitiert er den Knecht vor sich und legt ihm seine alte Schuld wieder auf (Mt.18,23-35). In Gottes Gericht gilt daher der Grundsatz: Wie du ihm, so ich dir. Daher ist Vorsicht geboten.

 

(3.4) Außerdem machen sich diejenigen, die sich zum Richter über ihre Mitmenschen erheben, einfach lächerlich. Bei ihren Mitmenschen fällt ihnen die kleinste Kleinigkeit auf. Von ihren eigenen Charakterfehlern aber nehmen sie keine Notiz. Das Bild vom Splitter und vom Balken ist auch im rabbinischen Judentum bekannt. Allerdings wird es dort ganz anders aufgefasst. Im babylonischen Talmud heißt es: „Es sollte mich wundern, wenn es in dieser Generation einen gäbe, der Zurechtweisung annähme. Wenn man ihm sagen würde: Nimm den Splitter aus deinen Augen fort, so würde er antworten: Nimm den Balken aus deinen Augen.“ (zit. bei Grundmann, 220). Was dem pharisäischen Denken als faule Ausrede erscheint, um sich der notwendigen Ermahnung zu entziehen, wird von Jesus als Begründung für die Unmöglichkeit des Richtens gebraucht. Die Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit soll zu einem liebevollen Umgang mit dem Nächsten führen – Richten und Verurteilen ausgeschlossen.

 

(5) Menschen, die ihre eigene Fehlerhaftigkeit ausblenden und sich zum Richter über andere Menschen erheben, sind in Jesu Augen nichts anderes als Heuchler (vgl. Mt.6,2; 23,27). Vielleicht geben sie vor, den Anderen in Liebe zurechthelfen zu wollen. Aber dazu sind sie gar nicht in der Lage. Wer einen Balken im eigenen Auge hat ist ein „blinder Blindenführer“ (Lk.6,39). Er ist daher aufgefordert, den Balken aus seinem Auge zu entfernen. Wenn er seine eigenen Fehler eingesehen und beseitigt hat, mag er seinem Bruder durchaus bei dessen Splitter behilflich sein – vorher aber nicht. Nur mit dieser Einstellung wird die gegenseitige Ermahnung nicht richtend, sondern helfend geschehen.

 

            Leonhard RAGAZ hat das Richten als „Krebsschaden aller Religion, Frömmigkeit, Kirchlichkeit“ bezeichnet. „Es wächst sich aus zum religiösen Fanatismus, zur Verfolgung des Menschen um Gottes willen; es wird, in allen Formen, zum Index, welcher die Verbreitung der nicht offiziellen Wahrheit verhindert; es wird, auch in allerlei Formen, zur Inquisition, welche den Vertreter einer verbotenen Wahrheit quält, ja vernichtet, physisch oder moralisch; es wird Orthodoxie auf der einen und Verketzerung auf den andern Seite, wird Streit, Krieg, wird eine giftige Quelle alles Übels, trennt wie der Mammon den Menschen von Gott und von den  Menschen, schafft Lüge und Qual ohne Ende; es wird eine Hölle auf Erden – im Großen und im Kleinen, in der Geschichte der Sache Christi wie im Leben des Alltags, immer besonders im Bereiche der Religion.“ Ein Grund dafür liegt seiner Auffassung nach in den „Balken in den Augen der Frommen“: „In der Religion nimmt das Motiv des Richtens, dem Wesen des Gesetzes entsprechend, auch die Form an, dass man so streng gegen den Unglauben der Andern ist, weil der eigene Glaube schwach ist. Man will mit der Verurteilung des Unglaubens der Andern den eigenen vor sich selbst – und Andern! – verhüllen. Und das gilt ganz allgemein. Wer seiner Sache sicher ist (so wie man das in Demut sein kann), der lässt den Andern Freiheit; wer aber selbst schwankt und zweifelt, der ersetzt die eigene Festigkeit durch die Härte gegen die Andern.“ (Ragaz, 152f.)

 

(6) Weil Gott der Richter der Richter ist, fällt richterliches Verhalten auf den Täter zurück. Dieser Gedanke wird abschließend mit einem Bildwort bekräftigt. Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.“ Zahlreiche Bibelausleger halten dieses Wort für rätselhaft und undeutbar. (Luz, 494). Für den Hörer im damaligen Palästina aber konnte durch diesen Ausspruch Jesu ein Bild vor Augen entstehen, das ihm unmittelbar verständlich war.

 

Streunende Hunde gehörten zum Erscheinungsbild orientalischer Städte. Sie ernährten sich von Unrat und Abfällen und wurden nicht gefüttert. Schweine hingegen erhielten für ihre Mast reichlich Futter. Im Bildwort wird also ein widersinniges Verhalten geschildert.

 

Den Hunden wird etwas zum Fraß vorgeworfen. Der Begriff „das Heilige“ dient im biblischen Sprachgebrauch auch als Bezeichnung des Opferfleisches (2.Mose 29,33f; 3.Mose 2,3; 22,10-16; 4.Mose 18,8-10). In diesem Sinne findet sich das Bild auch im Talmud: „Man löst Heiliges nicht aus, um es die Hunde fressen zu lassen.“ (StrBill I, 447).  Die Schweine erhalten anstelle ihres Mastfutters wertvolle Perlen.

 

Dieses widersinnige Verhalten bleibt nicht ohne Folgen. Die Perlen werden von den Schweinen zertreten. Die Hunde, die mit Opferfleisch gefüttert wurden, zerreißen ihre Wohltäter. Die Moral von der Geschicht´: „Wenn du dich (anderen Leuten gegenüber) unangemessen verhältst, musst du mit entsprechenden Reaktionen und Folgen rechnen.“ (Lips, 180).  Im Zusammenhang des Textabschnitts folgt daraus: „Richten und Urteilen über den Nächsten“ ist ein „Beispielfall falschen Verhaltens, das in seinen Folgen auf den Handelnden zurückfällt und sich gegen ihn selbst kehrt“. Das Bild warnt daher alle, die sich ihren Mitmenschen gegenüber als Richter aufspielen: „Euer falsches Verhalten gegenüber dem anderen fällt als Gericht Gottes auf euch selbst zurück.“ (Lips, 184).

 

Zusammenfassung:  Nachfolger Jesu können gegenüber ihren Mitmenschen nicht als Richter auftreten. Das würde in Gottes Gericht auf sie selbst zurückfallen und wäre aufgrund ihrer eigenen Fehlerhaftigkeit außerdem ein Akt der Heuchelei.

 

 

 

6.9    Von der Gebetserhörung (7,7-11)

 

(7,7) Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. (7,8) Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. (7,9) Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete? (7,10) oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete? (7,11) Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!

 

Vom Gebet handelte bereits der Abschnitt Mt.6,5-15. Dort war von der Art und dem Inhalt unserer Gebete die Rede.  Nun geht es darum, wie Gott auf unsere Gebete reagiert.

 

Im Lukasevangelium findet sich der Abschnitt über die Gebetserhörung (Lk,11,5-13) direkt im Anschluss an das Vaterunser (Lk.11,1-4). Daher ist von einer engen Beziehung beider Abschnitte auszugehen.

 

(7,7) Drei Aufrufe: Bittet, suchet, klopft an! Alle drei Verben werden zur Zeit Jesu auch in der religiösen Sprache benutzt. „Zu bitten“ heißt, mit seinen Anliegen zu Gott zu kommen: „Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr´s empfangen (Mt.21,22; vgl. 6,8; 18,19). „Suchen“ meint, sich nach Gott und seinem Heil zu sehnen: „Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden …“ (Jer.29,13.14a; vgl. Mt. 6,33; 13,44-46). Das „Anklopfen“ geschieht an der Himmelstür und drückt die Bitte um Hilfe aus. So berichtet der Talmud: „[Mardochai] klopfte an die Tore der Barmherzigkeit, und sie wurden ihm geöffnet“ (bMeg 12b). (StrBill I, 458f.)

 

Dieses Bitten, Suchen und Anklopfen hat eine besondere Verheißung. Wenn wir mit unserer Bitte zu Gott kommen, wird uns gegeben werden. Von wem? Natürlich von Gott selbst. Weil man sich im Judentum vor dem Aussprechen des heiligen Gottesnamens scheute, benutzt man stattdessen u.a. die passive Verbform („gegeben werden“). Die Erfüllung unserer Bitten, unseres Suchen und unseres Anklopfens ist dabei nicht an irgendwelche Voraussetzungen gebunden. Wenn wir mit unseren Anliegen zu ihm kommen, wird er uns erhören. „Bittet, so wird euch gegeben …“  So einfach ist das.

 

(7,8) Eine solche Behauptung ist außergewöhnlich und löst unweigerlich die Frage aus: Meint Jesus wirklich, dass all unsere Gebete erhört werden? Aus diesem Grund bekräftigt Jesus seine Aussage. Es ist tatsächlich so: Gott erhört unsere Bitten, unser Suchen, unser Anklopfen. Und wie das Präsenz (Gegenwartsform) der Verben „empfangen“ und „finden“ deutlich macht, soll das  nicht erst irgendwann in der Zukunft, sondern hier und heute geschehen (vgl. Mt.6,25-34). Diese Verheißung ist auch nicht auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt. Wörtlich übersetzt sagt Jesus hier: „Denn jeder, der bittet, empfängt“ (LB: „Denn wer da bittet, der empfängt …“).

 

(7,9.10) Jesus begründet seine Behauptung, indem er seinen Zuhörern ein einfaches Bild aus dem Alltag vor Augen führt. Ein Vater gibt seinem Sohn, was dieser zum Leben braucht. Brot und Fisch sind die Grundnahrung der Zeitgenossen Jesu (Mt.14,17). Ein Stein kann einem Brot täuschend ähnlich sehen; ebenso sind eine Schlange und ein aalartiger Fisch manchmal nicht auf den ersten Blick zu unterscheiden. Trotzdem wird niemand seinem Sohn das Essen verweigern und ihn stattdessen mit einem Stein oder einer Schlange abspeisen. Wenn Väter gebeten werden, sind sie bereit zu geben.

 

(7,11) Jesus zieht daraus eine Schlussfolgerung vom Kleinen auf das Große (a minori ad maius; vgl. Mt.6,26.30). Die Menschen sind böse. Dennoch geben sie ihren Kindern, was sie zum Leben brauchen. Wie viel mehr wird uns also der gute Gott gute Gaben geben, wenn wir ihn darum bitten? Daher steht fest: Wenn wir mit unseren Bitten zu Gott kommen, werden wir erhört.

 

In diesem Abschnitt zeigt sich erneut das bedingungslose Vertrauen Jesu in seinen Vater im Himmel. Ein solcher Glaube, so der Neutestamentler Ulrich Luz, „erweckt Bewunderung, aber auch Kritik. Ist Jesus … nicht auch realitätsblind und naiv?“ Daher könne man die Auslegungsgeschichte dieses Textes „als ein Ringen um diese Frage und damit auch als einen Versuch, unseren Text auf die Realität des Lebens zu beziehen, verstehen.“ (Luz, 385) Dazu gehört vor allem, dass die Aussage des Textes auf die Bitte um geistliche Gaben eingeschränkt wird.

 

Was sind die „guten Gaben“? All das, worum auch im Vaterunser gebeten wird. Neben den Dingen des täglichen Bedarfs („unser tägliches Brot gib uns heute“) geht es also um die Sache Gottes und unsere Bewahrung im Glauben. Auch das Suchen nach Gott und das Anklopfen an die Pforten des Reiches Gottes gehen über die Ebene des Materiellen hinaus. Jedoch sind die ganz konkreten Dinge des Alltags nicht von der Verheißung der Gebetserhörung ausgeschlossen. Der Evangelist Lukas bezieht dieses Wort allerdings ausschließlich auf geistliche Güter, wenn er den letzten Satz folgendermaßen wiedergibt: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“ (Lk.11,13).

 

Zusammenfassung:  Der gute Gott erhört unser Gebet. Deshalb dürfen und sollen wir uns voller Zuversicht mit unseren Bitten an ihn wenden.

 

 

 

6.10  Die goldene Regel (7,12)

 

(7,12) Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

 

„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ Weil hier ein ethisches Grundprinzip formuliert wird, werden diese Worte allgemein „Goldene Regel“ genannt.

 

Die „Goldene Regel“ findet sich nicht nur in der Bergpredigt. Speziell ihre negativ formuliere Fassung – vgl. das deutsche Sprichwort „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu“ – ist in vielen Kulturen und Religionen bekannt. Aber auch die positive Fassung ist nicht ohne Parallele. Das Judentum kannte beide Versionen. So berichtet der Talmud folgende Begebenheit:  „Einmal kam ein Heide zu Schammai; er sprach zu ihm: Nimm mich als Proselyten auf, unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Bein stehe. Er stieß ihn mit einem Baumaß fort, dass er in der Hand hatte. Er ging zu Hillel; dieser nahm ihn als Proselyten auf. Er sprach zu ihm: Was dir unlieb ist, tue keinem anderen; das ist die ganze Tora und das andere ist Erklärung. Gehe und lerne!“ (Schab 31a, zit. in Strecker, 157). Im Aristeasbrief (2. Jh. v. Chr.) stoßen wir auf die positive Formulierung: „Wie du wünscht, dass dich kein Übel trifft, sondern du an allem Guten teilhast, so tue auch du gegen deine Untergebenen und die Sünder“ (Arist 207; zit. in Gnilka, 265). Ähnlich drückt es das slavische Henochbuch (1.Jh. n. Chr.) aus: „Was ein Mensch für sich vom Herrn erfleht, das soll er auch jedem Lebewesen tun“ (slHen 61,1; zit. in Gnilka, 265).

 

Jesus gebraucht die Goldene Regel in der positiven Version. Die negative Fassung kann als allgemeiner Rechtsgrundsatz gelten und bei bloßer Passivität stehen bleiben. Das Ziel ist erreicht, wenn man anderen Menschen nichts Böses tut. Jesus aber will mehr als ein einigermaßen zivilisiertes Zusammenleben der Menschen. Nachfolger Jesu sind nicht damit zufrieden, das Böse zu vermeiden. Sie gehen auf ihre Mitmenschen zu,  um ihnen Gutes zu tun. Dabei beschränken sie sich nicht auf irgendwelche Wohltaten, sondern machen die Wünsche, die sie an ihre Mitmenschen haben, zum Maßstab ihres Verhaltens ihnen gegenüber.

 

Woran denkt Jesus dabei konkret? Isoliert betrachtet kann die Goldene Regel missverständlich sein. „Positiv angewendet werden kann sie nur unter der Voraussetzung, dass man für sich selbst das Gute will.“ (Gnilka, 226). Und sie muss im Zusammenhang der Bergpredigt verstanden werden.

 

Ihre einleitenden Worte („alles nun …“) deuten an, dass die Bergpredigt hier zusammengefasst wird.. Der Nachsatz „das ist das Gesetz und die Propheten“ erinnert an die Aussage aus Mt.5,17, mit welcher der Hauptteil der Bergpredigt eingeleitet wurde. Die Goldene Regel bildet dementsprechend eine Art Resümee. Jesus ruft hier also abschließend dazu auf, die Bergpredigt im Alltag umzusetzen.

 

Im Zentrum der Bergpredigt steht die Aufforderung, allen Menschen in Liebe zu begegnen. Das Gebot der Nächstenliebe ist – zusammen mit dem Gebot der Liebe zu Gott – nach Jesu Auffassung „das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt.22,39.40; vgl. Gal.5,14; Röm.13,8-10). Der Vergleich mit der Feldrede des Lukas zeigt, dass es bei der Goldenen Regel um die Liebe zu allen Menschen geht. Dort steht sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufruf zur Feindesliebe (Lk.6,27-30 – Lk.6,31). Die Goldene Regel Jesu ist daher ein Aufruf zu unbegrenzter Nächstenliebe.

 

Zum Abschluss des Hauptteils der Bergpredigt führt Jesus also alle Anweisungen seiner Rede auf ein Grundprinzip zurück und ruft seine Nachfolger dazu auf, die Initiative zu ergreifen und Gutes zu tun. Damit wird noch einmal klar, dass die Einzelanweisungen der Bergpredigt nicht als allumfassendes Gesetz verstanden werden sollen, sondern beispielhaften Charakter haben. Nachfolger Jesu sind aufgerufen, das in der Bergpredigt Gemeinte im Licht der Liebe in jeder Situation ihres Lebens neu zu finden und zu verwirklichen. Ihr eigenes phantasievolles Handeln zum Wohl des Nächsten ist gefragt.

 

Zusammenfassung:  In der Goldenen Regel hat Jesus die Bergpredigt zusammengefasst. Er ermutigt uns zu einem liebevollen Umgang mit unseren Mitmenschen. Wir sollen uns aktiv für ihr Wohlergehen einsetzen.           

 

 

 

6.11            Abschließende Mahnungen (7,13-29)

 

6.11.1              Das Tun ist entscheidend (7,13-23)

 

(7,13) Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. (7,14) Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

(7,15)  Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. (7,16) An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? (7,17)  So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. (7,18) Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. (7,19) Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. (7,20) Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

(7,21) Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. (7,22)  Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? (7,23) Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!

 

In der Goldenen Regel hat Jesus seine neue Lehre in einer kurzen Formel zusammengefasst. Nun folgt die abschließende Mahnung, die in der Bergpredigt ergangenen Weisungen auch zu befolgen und sich von nichts und niemandem davon abhalten zu lassen.

 

(13.14) Jesus ruft seine Zuhörer dazu auf, durch die enge Pforte hinein zu gehen. Gemeint ist der Eintritt in das Reich Gottes, bzw. das ewige Leben (7,21; vgl. 5,20; 18,3.8; 19,17.23f.; 23,13). Dementsprechend ist die „Pforte“ das Tor zum „neuen Jerusalem“ im Reich Gottes (Off.22,14). Die „enge Pforte“ zum Himmelreich erinnert an das Bild vom Nadelöhr: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Himmelreich komme“ (Mt.19,24). Ergänzend ist von zwei Wegen die Rede, die jeweils zu den entsprechenden Pforten führen – dem breiten und dem schmalen Weg. Dieses Bild ist aus dem Alten Testament bekannt. So teilt Jeremia dem Volk mit: „So spricht der HERR: Siehe, ich lege euch vor den Weg zum Leben und den Weg zum Tode“ (Jer.21,8; vgl. 5.Mose 30,19).

 

Warum ist die Pforte zum ewigen Leben „eng“? Weil nur diejenigen ins Reich Gottes eingehen, die Jesus Lehre praktisch umsetzen: Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel“ (Mt.7,21). Und das fordert vom Menschen ganzen Einsatz.

 

Jesus begründet seinen Aufruf, durch die enge Pforte zu gehen, mit dem Hinweis, dass die weite Pforte – und der breite Weg, der zu ihr hinführt – ins Verderben führt. Das Verderben (griech.:apōleia) wird am Jüngsten Tag vollzogen, dem „Tag des Gerichts und der Verdammnis (apōleia“) der gottlosen Menschen“ (2.Petr.3,7). Deshalb ist es so wichtig, den schmalen Weg zur engen Pforte zu gehen.

 

Aber weil die Pforte eng ist und der Weg schmal ist, wird er nur von wenigen gefunden. Auch Menschen, die im Namen Jesu große Dinge tun, können sich in Wirklichkeit auf dem falschen Weg befinden (Mt.7,22). Es bedarf also einer besonderen Anstrengung, den Weg zum Leben zu finden – und zu gehen. Dazu will Jesus aufrufen.

 

(15) Weil der Weg schmal ist, müssen Nachfolger Jesu darauf achten, dass sie nicht vom Weg abkommen bzw. davon abgebracht werden. Aus diesem Grunde warnt Jesus vor falschen Propheten. Gedacht ist dabei an Wanderprediger, die eine besondere Botschaft von Ort zu Ort tragen (Mt.10,40-42). Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings treten am Ende des 1. Jahrhunderts zunehmend Gestalten auf, die nichts als Verwirrung stiften. Daher ruft der Apostel Johannes seine Gemeinden auf: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt“ (1.Joh.4,1; vgl. Off.2,20). Sie mögen noch so friedlich daher kommen – sie zerstören die Gemeinde. In Wirklichkeit sind es „… reißende Wölfe … , die die Herde nicht verschonen werden“ (Apg.20,29).

 

(16-20) Wie soll die Kirche mit ihnen umgehen? Jesus stellt eine Regel auf, an der die Geister zu unterscheiden sind: ihre Früchte. Gemeint ist ihr konkretes Handeln (7,21; vgl. 3,8; 12,33). Wie man von Dornen und Disteln keine Früchte ernten kann, so sind von falschen Propheten keine guten Taten zu erwarten. Nur gute Bäume bringen gute Früchte. Deshalb ist es wichtig, sich das Leben derjenigen, die mit einem prophetischen Anspruch daherkommen, genau anzuschauen. Wer keine Früchte bringt, ist ein falscher Prophet und wird am Ende der Vernichtung anheimfallen (vgl. Mit.3,10).

 

Dieses einleuchtende Kriterium wurde in der nachapostolischen Zeit praktisch angewandt. In der Didache, einer christlichen Schrift vom Anfang des 2. Jahrhunderts n.Chr., heißt es: „Nicht jeder, der im Geist redet, ist ein Prophet, sondern nur, wenn seine Lebensweise sich am Herrn orientiert. An der Lebensweise also sollte ihr erkennen, ob einer ein echter Prophet ist!“ (Did.11,8). Konkret wurde z.B. darauf geachtet, ob sich ein Wanderprediger von einer Gemeinde „durchfüttern“ ließ und Geld verlangte (Did.11,9.12; 12,1-5).

 

(21) Die Lebensweise eines Menschen ist aber nicht nur ein praktisches Kriterium, um zwischen echten und falschen Propheten unterscheiden zu können. Für Gott kommt es entscheidend darauf an, dass der Glaube eines Menschen mehr ist als ein formales Bekenntnis dazu, dass Christus der Herr ist (vgl. Röm.10,9). Sein Wille soll im täglichen Leben verwirklicht werden (vgl. Mt.12,50).

 

(22) An „jenem Tage“, dem Tag des Gerichts (Apg.17,31; Röm.2,16), werden die selbsternannten Propheten Jesus darauf hinweisen, dass sie in seinem Namen als Propheten und Wundertäter gewirkt haben. Aber Jesus wird sich nicht davon beeindrucken lassen. Zwar befinden sich unter den Nachfolgern Jesu auch Propheten und Wundertäter (Mt.10,8; 12,10; 23,34). Diese besonderen Zeichen sind jedoch kein Beweis für echtes Christsein. Dies beweist sich ganz unspektakulär dadurch, dass Alltag nach dem Willen Gottes ausgerichtet wird. Gerade daran aber mangelt es den „Propheten“.

 

(23) Daher wird Jesus ihnen im Gericht ganz offen erklären,  dass er ihren Glauben nicht erkannt hat. Die guten Werke sind nicht Bedingung des Heils. Das ewige Leben ist ein Geschenk, das  im Glauben angenommen wird. Aber gute Werke sind Kennzeichen eines lebendigen Glaubens. Wem dieses Kennzeichen fehlt, wird von Jesus abgewiesen. Er ist in seinen Augen nichts anderes als ein „Übeltäter“, wörtlich: ein „Gesetzloser“. Er hat sein Gebot der Liebe missachtet (Mt.24,12).

 

Zusammenfassung:  Wir sind aufgerufen, die Lehre der Bergpredigt praktisch umzusetzen. Deshalb warnt Jesus vor falschen Propheten, die uns davon abhalten. Erkennungszeichen für echte und falsche Propheten ist das Ausleben des göttlichen Willens. Auch aus der Sicht Gottes kommt es darauf an, im Alltag nach Jesu Gesetz der Liebe zu handeln.

 

 

6.11.2  Der kluge und der törichte Mann (7,24-29)

 

(7,24) Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. (7,25) Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. (7,26) Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. (7,27) Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein, und sein Fall war groß.

(7,28) Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, daß sich das Volk  entsetzte über seine Lehre; (7,29) denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

 

Jesus beendet seine Rede, indem er seinen Zuhörern aufzeigt, vor welchen Alternativen sie stehen. Auch die alttestamentlichen Gesetzessammlungen schlossen in der Regel mit dem Hinweis auf den Segen und den Fluch, der mit der Beachtung oder Übertretung des Gesetzes verbunden ist (3.Mose 26; 5.Mose 30,15-20). Jesus wählt dazu erneut die Form eines Gleichnisses.

 

Das Bild vom Hausbau wurde in ähnlicher Weise auch im rabbinischen Judentum als Gleichnis benutzt. So soll Elischa ben Abuja gesagt haben: „Ein Mensch, der viele gute Werke hat und viel Tora gelernt hat, womit lässt sich der vergleichen? Mit einem Menschen, der unten mit Steinen baut und danach mit Ziegeln; auch wenn viele Wasser kommen und an ihren Seiten stehen bleiben, lösen sie sie nicht auf von ihrer Stelle weg. Ein Mensch aber, der keine guten Werke hat und Tora lernt,  womit lässt sich der vergleichen? Mit einem Menschen, der zuerst mit Ziegeln baut und danach mit Steinen; auch wenn nur geringe Wassermassen kommen, stürzen sie sie alsbald um.“ (StrBill I, 469)

 

(24) Im Unterschied zu Elischa ben Abuja bezieht Jesus dieses Gleichnis jedoch nicht auf das Studium und die Praxis der Tora, sondern auf das Hören und Tun seiner Bergpredigt. Darin zeigt sich sein besonderer Anspruch, seine „Vollmacht“ (vgl. 7,29). Gemeinsam ist beiden, dass sie ihr Augenmerk nicht nur auf die Lehre, sondern vor allem auf die praktische Umsetzung des Willens Gottes legen. Die LB übersetzt: „Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie …“  In der wörtlichen Übersetzung wird noch deutlicher, dass Jesus hier nicht zum Hören und zum Tun aufruft, sondern dazu, aus dem Gehörten die praktischen Konsequenzen zu ziehen: „Jeder also, der hört diese meine Worte und tut sie …“ Der Akzent liegt also auf dem Tun. Das hat Jesus bereits in der Goldenen Regel (7,12) und bei seinen Aussagen zum Umgang mit falschen Propheten (7,21) deutlich gemacht. Daher liegt der Unterschied zwischen dem klugen und dem törichten Mann auch nicht im Hören, sondern im Tun der Bergpredigt (7,26).

 

Welche Folgen hat es für einen Menschen, wenn er nach der Bergpredigt lebt? Er „gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute“. Wörtlich: „Er wird einem klugen Mann gleichen …“ Das Verb „gleichen“ steht hier nicht im Präsens, sondern im Futur (vgl. Mt.25,1). Gemeint ist das Endgericht Gottes. Dort kommt wird nicht gefragt, ob jemand das Gesetz gehört hat, sondern ob er danach gelebt hat (Röm.2,13). Auch fromme Bekenntnisse oder der Verweis auf Zeichen und Wunder helfen nicht. Entscheidendes Kennzeichen des Glaubens ist, ob jemand den Willen Gottes getan hat (7,21-23). Wer sich das heute zu Herzen nimmt, wird dann wie ein Mann dastehen, der sein Haus auf einen Fels gebaut hat.

 

(25) Jesus begründet diese Behauptung, indem er das Bild vom Haus auf dem Fels weiter entfaltet. Im Orient können plötzliche Regengüsse aus kleinen Flüssen oder längst versiegten Bächen reißende Ströme machen. Zusammen mit orkanartigen Stürmen reißen die Wassermassen alles mit sich, was keinen festen Halt hat. Platzregen, Wirbelstürme und Wasserfluten sind alttestamentliche Bilder für das Gericht Gottes. So verkündigt der Prophet Hesekiel: „Darum spricht Gott der HERR: Ich will einen Wirbelwind losbrechen lassen in meinem Grimm und einen Platzregen in meinem Zorn und Hagel wie Steine in vernichtendem Grimm. So will ich die Wand einreißen, die ihr mit Kalk übertüncht habt, und will sie zu Boden stoßen, dass man ihren Grund sehen soll. Wenn sie fällt, sollt ihr auch darin umkommen. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin“  (Hes.13,13.14; vgl.  Jes.28,17; 30,30). Im Gericht ist nur der sicher, der sich an Gottes Willen ausgerichtet hat. Sein Haus steht auf dem Fels und wird nicht hinweggespült.

 

(26.27) Ganz anders aber wird es dem ergehen, der Jesu Rede zwar gehört, aber dennoch ignoriert hat. Er wird wie ein törichter Mann dastehen, der sein Haus auf Sand gebaut hat. Sein Haus wird vom Unwetter des göttlichen Gerichts mitgerissen. Mit diesem Paukenschlag beendet Jesus seine Rede.

 

(28) Matthäus berichtet, dass das Volk „entsetzt“ (griech.: ekplēssomai) auf die Lehre Jesu reagierte. Dieses Wort schließt zwar durchaus eine gewisse Bewunderung mit ein. Nach der Heilung eines Taubstummen berichtet Markus, dass sich die Zeugen dieses Wunders „über die Maßen … wunderten (ekplēssomai) (Mk.7,37; vgl. 11,18). Auf Jesu Wunder entsetzt zu reagieren heißt aber andererseits nicht, an Jesus zu glauben. Es kann sogar eine ausgesprochen ungläubige Reaktion beschreiben – wie z.B. beim Auftritt Jesu in Nazareth: „Und es begab sich, als Jesus diese Gleichnisse vollendet hatte, dass er davonging und kam in seine Vaterstadt und lehrte sie in ihrer Synagoge, so dass sie sich entsetzten (ekplēssomai) und fragten: Woher hat dieser solche Weisheit und solche Taten? Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? … Und sie ärgerten sich an ihm … Und er tat dort nicht viele Zeichen wegen ihres Unglaubens“ (Mt.13,54; vgl. 19,25).

 

(29) Der Grund für das Entsetzen der Volksmenge liegt in der Vollmacht, mit der Jesus seine Lehre verkündigt hat. Darin unterscheidet Jesus sich von den Schriftgelehrten. Sie verkündeten ihre Lehre im Zusammenhang und als Auslegung vorgegebener Lehrmeinungen. Jesus aber braucht das nicht. Völlig souverän verkündet den Willen seines Vaters im Himmel (7,21).  Seine Vollmacht umfasst auch den Anspruch, Sünden vergeben zu können – was in den Augen der Schriftgelehrten ebenfalls anmaßend, ja gotteslästerlich ist (Mt.9,1-8). Dem Auferstandenen schließlich ist die Vollmacht „im Himmel und auf Erden“ gegeben (Mt.28,18). Mit diesem Anspruch geht Jesus weit über das Normalmaß hinaus. Daher ist es nur zu verständlich, dass sich an ihm die Geister scheiden.

 

Zusammenfassung:  In der Bergpredigt hat Jesus in eigener Vollmacht den Willen Gottes verkündet. Daher ist jeder Mensch aufgerufen, nach der Bergpredigt zu leben. Anderenfalls wird er im Gericht nicht bestehen.