1      Prolog (1,1-18)

 

Der Jesus-Erzählung des Johannesevangeliums, die in 1,19 beginnt, geht eine Vorrede voran – ein „Prolog“. Der Prolog ist – allgemein gesagt – ein klassisches Element der antiken Literatur und hat „die Aufgabe, die Hörer über das Ziel des Werkes zu informieren und ihnen das Rüstzeug zur Verfügung zu stellen, das zum Verständnis des Themas und seiner Entfaltung nötig ist“ (Zumstein, 65).

 

Welche konkrete Funktion aber hat der Prolog des Johannesevangeliums für dessen Verständnis?

 

Das hängt natürlich vor allem von seinem Inhalt ab. Hier fällt auf: „In den V.1-18 erscheinen zwar viele Motive, die in der folgenden Darstellung dann detailliert wieder auftauchen; aber mehrere wichtige Begriffe des Prologs werden … im weiteren Verlauf des Evangeliums nicht wieder aufgenommen (z.B. der christologische Titel ‚Logos‘, der Begriff der Gnade oder der des Pleroma [Fülle]).“ (Zumstein, 66).

 

Deshalb handelt es sich bei diesem Prolog nicht einfach um eine Einführung, die über das anschließend Folgende informiert. Der Prolog stellt vielmehr „den hermeneutischen [verständnismäßigen] Rahmen her, in dem diese Geschichte zu lesen ist“ (Zumstein, 67).

 

Und worin besteht dieser „hermeneutische Rahmen“? „Der Prolog setzt den Logos mit dem absoluten und grundlegenden Beginn in Bezug und zeichnet die aus der Präexistenz in die Inkarnation führende Bewegung nach, um dem Leser zu zeigen, dass der Mensch Jesus, der im Mittelpunkt des folgenden Berichts stehen wird, die Gestalt Gottes inmitten der Welt ist.“ (Zumstein, 67).

 

Nun gehen viele Bibelausleger davon aus, dass dem Prolog ein Lied zugrunde liegt, das vom Verfasser des Evangeliums in seinem Sinne überarbeitet bzw. ergänzt wurde. Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der Frage, ob man den ursprünglichen Text des Liedes rekonstruieren kann und – sofern man eine Rekonstruktion für möglich hält – wie er lautete.

 

Stilistisch besteht der Prolog zu einem großen Teil aus kurzen Hauptsätzen, die durch ein „und“ miteinander verbunden sind. Oft wird das letzte Hauptwort eines Satzes am Anfang des folgenden Satzes wiederholt („Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott …“). Dieser Stil wird aber nicht durchgehalten. Das kann ein Zeichen für eine Bearbeitung sein.

 

Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass die Verse 6-8 und Vers 15 später hinzugefügt wurden – also die Verse, in denen von Johannes dem Täufer die Rede ist. Sie fallen aus dem Reimschema und unterbrechen den Gedankengang. Darüber hinaus werden von verschiedenen Auslegern die folgenden Verse nicht als ursprünglich zum Lied gehörig betrachtet (Übersicht nach Zumstein, 67f.):

Vers

Text

Begründung

1,2

„Dasselbe war im Anfang bei Gott.“

Wiederholung, um die Bedeutung von V.1b („… und das Wort war bei Gott …“ ) zu betonen.

1,9c

„… die in diese Welt kommen …“

Als Überleitungsformel zu 10 („Es war in der Welt …“) hinzugefügt.

1,10

„Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht.“

Wiederholung von V.5 („Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.“). 

1,12c

„… denen, die an seinen Namen glauben …“

Kommentar zu 12a („Wie viele ihn aber aufnahmen …“).

1,13

„… die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind“  

Kommentar zu 12b („Gottes Kinder zu werden“).

1,17-18

„(17) Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. (18) Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.“

Die Verse unterscheiden sich stilistisch von den vorangegangenen, die bekenntnishaft formulieren. Mit Mose wird eine menschliche Gestalt genannt. Erstmals wird Jesus Christus erwähnt und mit dem Logos identifiziert. Die Sätze gegeben charakteristische Auffassungen des Johannesevangeliums wieder.

 

Die Bibelwissenschaft hat sich auch über den religionsgeschichtlichen Hintergrund des ursprünglichen Liedes Gedanken gemacht. Zuweilen wurde es jüdisch-hellenistischen Gemeinden oder Täuferkreisen zugeschrieben. Die Mehrheit der Bibelausleger geht aber wohl zu Recht von einem christlichen Hintergrund aus. Alle anderen Auffassungen stoßen „auf erhebliche Schwierigkeiten, vor allem die Inkarnationsaussage in Joh 1,14, die schwerlich anders als ein ureigen christliches Bekenntnis zu verstehen ist“ (Schnackenburg I, 206).

 

Auch über die Bedeutung einer solchen Rekonstruktion gibt es unterschiedliche Auffassungen. Einige meinen, dass das ursprüngliche Lied „zunächst für sich ausgelegt“ werden muss (Becker, 71), andere, dass es „methodisch nicht begründbar“ ist, „eine Exegese des vorjoh Hymnus vorzunehmen, um danach seine Uminterpretation durch den Evangelisten darzustellen“. (Zumstein, 69).

 

Aufgabe der Bibelausleger ist aber in jedem Fall, den vorliegenden Text auszulegen – ganz unabhängig von der Frage, ob er bestimmte Entwicklungsstadien durchlaufen hat und welche das ggf. gewesen sind. In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich die Frage, ob es bei der Auslegung der Endgestalt des Textes wirklich einen Unterschied macht, ob es sich um einen bearbeiteten Text handelt und wie er dabei verändert wurde – oder nicht.

 

 

 

1.1    Der transzendente Ursprung des Logos, seine universale Bedeutung und seine Bedeutung für die Menschen (1,1-4)

 

Der Prolog beginnt mit Aussagen über den tranzendenten [übersinnlichen] Ursprung des „Logos“.

 

(1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. (2) Dasselbe war im Anfang bei Gott. 

 

Im Prolog des Johannesevangeliums steht das „Wort“, griechisch „Logos“ (λόγος), im Mittelpunkt. Was aber ist das – der „Logos“?

 

Der Evangelist hat hier einen Begriff aufgenommen, der den Lesern vertraut war, und der damals in verschiedenen religiösen und philosophischen Zusammenhängen mit einer jeweils unterschiedlichen Bedeutung verwendet wurde.

Religion/

Philosophie

Text-Beispiel

Wer oder was ist der Logos?

Schöpfungstheologie des AT

Ps.33,6: Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht …

Sofern es sich um das „Wort des Herrn“ handelt, hat es eine schöpferische Potenz.

Weisheitsliteratur des AT

aus dem Lied der „Weisheit“, Spr.8,22.25: (22) Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her … (25) Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren.

Die Weisheit ist ein Schöpfungswerk Gottes vor der Schöpfung der Welt.

griechische Philosophie, z.B. Stoa

„… nichts tun, was das gemeinsame Gesetz gewöhnlich verbietet, das Gesetz, das die rechte Vernunft (ὀρθς λόγος), die alles durchdringt, das identisch mit Zeus ist, dem Leiter der Verwaltung des Alls.“ (Chryipp, Diog Laert VV 87f., zit. in Schnelle, 47).

Ein geistiges Prinzip, dass die Welt durchwaltet.

hellenistisches Judentum, z.B. Philo

„… Gott selbst hält es für unter seiner Würde, zur Sinnlichkeit zu kommen, und schickt seine Logoi den Tugendliebenden zu Hilfe; sie aber behandeln und heilen die Schwächen der Seele dadurch, dass sie heilige Warnungen wie unantastbare Gesetze aufstellen, zu ihrer Übung aufrufen und wie die Lehrer im Ringkampf Tüchtigkeit, Kraft und unwiderstehliche Stärke einflößen.“  (Über die Träume I, 70).

Gott „nimmt von niemandem etwas …, wohl aber gibt er durch sein Wort [Logos], dessen er sich als Vermittler der Gaben bedient, durch das er auch die Welt erschuf.“ (Über die Unveränderlichkeit Gottes, 57)

Der Logos als „eine von Gott ausgehende Mittlergestalt, die die Verbindung herstellt zwischen dem in ferne Transzendenz gerückten Gott, der Welt und dem Menschen, der umgekehrt auch wieder die Welt und den Menschen Gott gegenüber vertritt … ein persönlich gefasster Mittler also …“ (ThWNT IV, 87)

(zur Gnosis vgl. den Hinweis in Einleitung 3)

Entscheidend ist natürlich die Frage, wie der Begriff „Logos“ im Prolog des Johannesevangeliums gemeint ist.

 

(1a) Zunächst wird gesagt: „Im Anfang war das Wort.“ Die Formulierung „im Anfang“ erinnert natürlich an 1 Mos 1,1 („Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“). Im ersten Satz des Johannesevangeliums geht es aber nicht um den Beginn des Schöpfungswerks, sondern um eine Charakterisierung des Logos.

 

Und wie wird das „Wort“ charakterisiert? Als etwas, was „im Anfang“ bereits da „war“. Der Satz will „das vorweltliche Sein des Logos ausdrücken“ (Schnackenburg I 209). Dementsprechend handelt es sich bei dem Wort „war“ (ἦν) um ein Verb im Imperfekt, der eine Handlung als dauerhaft, wiederholt und unabgeschlossen darstellt.

 

Die erste Zeile des Liedes stellt also fest: Das „Wort“ ist eine „Wirklichkeit, die jenseits von Welt und Zeit liegt“ (Bultmann, 16) und ihr deshalb überlegen ist.

 

(1b) „Der erste Satz aber drängt zum zweiten; denn ist von der ἀρχή [dem Anfang] im radikalen Sinne die Rede, so wird der Gedanke zu Gott selbst hingelenkt. In welchem Verhältnis steht der Logos zu Gott, der doch im Grunde einzig als ἐν ἀρχή [im Anfang] gedacht werden kann?“ (Bultmann,16). Deshalb heißt es nun: „Und das Wort war bei Gott.“  

 

An dieser Stelle wird „keine genealogische [abstammungsmäßige] Verbindung zwischen Gott und dem Logos hergestellt, die aus dem Logos z.B. ein göttliches, doch von Gott geschaffenes Wesen machen würde. Gott und der Logos erscheinen einfach gemeinsam und zugleich ‚am Anfang‘.“ (Zumstein,75).

 

Die zweite Zeile des Liedes weist also auf die von Ewigkeit her bestehende „unvorstellbar tiefe und enge Gemeinschaft“ des Wortes mit Gott hin (Schnackenburg I, 211).

 

(1c) Der erste und zweite Satz drängen zum dritten: „Und Gott war das Wort.“ Wenn das „Wort“ vor Schöpfung der Welt „bei Gott“ „war“, muss es sich um etwas handeln, dass mit ihm auf einer Stufe steht.

 

Nicht wenige Ausleger meinen, dass „Gott“  (θεὸς) hier im Sinne von „göttlich“ bzw. „göttlicher Art“ gemeint sei, und verweisen dabei darauf, dass das Wort „Gott“  hier ohne Artikel steht (Becker, 72; Schnelle, 45, Wengst, 42).  Sofern man den Prolog nicht völlig abgetrennt vom Rest des Johannesevangeliums betrachtet – wozu kein Grund besteht – , muss man aber auch 20,28 einbeziehen, wo es heißt: „Mein Herr und mein Gott“ und wo Gott mit Artikel steht (ὁ κύριός μου καὶ ὁ θεός μου; vgl. auch Joh.10,30: „Ich und der Vater sind eins.“).

 

In der dritten Zeile des Liedes wird dem Wort daher sogar das Gott-Sein zugesprochen.

 

(2) Vers 2 kombiniert die erste und die zweite Zeile des Liedes. Aus „im Anfang war das Wort“ und „das Wort war bei Gott“ wird: „Dasselbe war im Anfang bei Gott.“  Inhaltlich wird also nichts Neues gesagt. Möglicherweise dient dieser Vers dazu, ein mögliches Missverständnis von 1c („Und Gott war das Wort“) zu vermeiden – nämlich, dass es sich bei „Gott“ und dem „Wort“ um die gleiche „Person“ handelt bzw. beide identisch sind (Bultmann, 17).

 

 

Ging es bisher um die Beziehung des Logos zu Gott, wird jetzt die Beziehung des Logos zur Welt beschrieben.

 

(3) Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. (4) In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 

 

(3) Weil es um die Beziehung zur Welt geht, ändert sich auch die Verbform. „Das Imperfekt ‚war‘ (ἦν) wird durch den ‚historischen‘ Aorist (ἐγένετο [gemacht]) abgelöst: Der Prolog verlässt die Sphäre des ‚Unvordenklichen‘ und dringt in die Sphäre der geschichtlichen Welt ein.“ (Zumstein,76).

 

„Alle Dinge“  meint die ganze Schöpfung – nicht nur die Welt des Menschen. Sie ist nicht etwa ein Ausfluss des Göttlichen oder das Ergebnis eines Zusammenstoßes von Licht und Finsternis, sondern ein bewusst gestaltetes Schöpfungswerk. Sie wurde  „gemacht“  – und zwar vom Logos.

 

Auch die Vorstellung einer Schöpfung mit Hilfe des Logos ist kein ganz neuer Gedanke. Das Buch Weisheit erklärt: „Gott meiner Väter und Herr des Erbarmens, der du alle Dinge durch dein Wort geschaffen und den Menschen durch deine Weisheit bereitet hast …“ (Weish.9,1-2). Philo von Alexandria betont: „Denn das Abbild Gottes ist der göttliche Logos, durch den das Weltall geschaffen wurde.“ (spec. leg. 81, zit. in Schnackenburg I, 213). Bei allen Ähnlichkeiten ist aber zu bedenken, dass der Logos, von dem der Johannesprolog spricht, „nicht, wie der Logos Philos … ein Vermittler zwischen der Welt und der transzendenten Gottheit, sondern … Gott selbst“ ist (Bultmann, 20).

 

Die klarste Parallele findet sich daher natürlich in den Aussagen des NT, die von der Beteiligung Jesu Christi an der Schöpfung sprechen:

1 Kor  8,6

so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.

Kol 1,16

Denn in ihm [Jesus Christus] ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist ….

Hbr 1,2

hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat.

 

Der zweite Teil des Satzes verstärkt die Aussage: „und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“  „Es gibt kein Element der Welt, das nicht auch das Werk des Logos wäre.“ (Zumstein,76).

 

(4) Das Ende von Vers 3 und der Anfang von Vers 4 sind hinsichtlich des Satzbaus unklar. Entweder heißt es: „… und ohne ihn ist nichts geworden, was geworden ist. In ihm war das Leben …“ Oder aber: „… und ohne ihn ist nichts geworden. Was geworden ist, (dafür) war in ihm das Leben …“  Inhaltlich ist das aber nicht entscheidend.

 

War in Vers 3 von der Schöpfungsmittlerschaft des Logos die Rede, so spricht der Prolog nun von um dessen Bedeutung für die Menschen. Dabei geht es – wie das im Imperfekt stehende Verb „war“ (ἦν) zeigt  – um eine andauernde Bedeutung. Der Logos ist eine kontinuierliche Lebensmacht von Gott. Als eine solche Lebensmacht ist der Logos „das Licht der Menschen“.

 

Was aber ist mit  „Licht“ gemeint? Nach dem Johannesevangelium hat „Licht“ die Kraft, zu zeigen, was ist: „Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.“ (3,20). Außerdem dient es zur Orientierung: „… Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“ (12,35). Es ist auch ein anderes Wort für Offenbarung: „Er [Johannes] war ein brennendes und strahlendes Licht …“  (5,35).

 

Hier liegt „kein Beleg für eine wie auch immer geartete ‚natürliche Theologie‘ vor“ und es „sind alle Erwägungen abwegig, die in dem ‚Licht der Menschen‘ ein ihnen gegebenes ‚inneres Licht‘, ihre sie von den Tieren unterscheidende Vernunft erblicken wollen. Leben und Licht bleiben an das Wort gebunden, haben nur von ihm her ihre Eindeutigkeit.“ (Wengst, 45).

 

 

 

1.2    Ablehnung und Aufnahme des Wortes – und ein Exkurs über Johannes den Täufer (1,5-13)

 

Nachdem es in den Versen 1-4 um den transzendenten Ursprung des Logos (1-2) und seine Beziehung zur Welt ging (3-4), steht nun die Reaktion der Welt im Mittelpunkt.

 

(5) Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. 

 

(5a) Was ist gemeint, wenn gesagt wird, dass das Licht in der Finsternis „scheint“?

 

Dazu gibt es unter den Bibelauslegern unterschiedliche Auffassungen: „In der Auslegungsgeschichte ist die Bedeutung des Präsens φαίνει umstritten. Handelt es sich um ein zeitloses Präsens? In diesem Fall würde sich dieses Präsens auf den Logos asarkos (vor der Inkarnation) beziehen und das Licht des Lebens bezeichnen, das seit der Schöpfung in der Welt ist. Oder ist φαίνει ein historisches Präsens (…)? Dann würde der Text auf den Logos ensarkos (den inkarnierten Logos) anspielen.“ (Zumstein, 78).

 

Wenn dem Prolog des Johannesevangeliums ein Lied zugrunde liegt, das der Verfasser in seinem Sinne überarbeitet bzw. ergänzt hat (s.o.), kann dieser Satz ursprünglich einfach das Licht des Lebens bezeichnen, das seit der Schöpfung in der Welt ist.

 

Im Johannesevangelium aber folgt diesem Vers ein (vom Verfasser eingefügter?) Exkurs über Johannes den Täufer, der „von dem Licht zeugte“ (1,7) – womit zweifellos Jesus, das menschgewordene Wort, gemeint ist. Deshalb ist auch die Aussage „das Licht scheint in der Finsternis“ zumindest im Prolog des Evangeliums auf ihn zu beziehen (zur unterschiedlichen Bedeutung dieser Aussage in der Vorlage und im Johannesevangelium vgl. Schnelle, 51f.). Hinzu kommt ein Paralleltext aus dem 1. Johannesbrief: „Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint schon.“ (1 Joh 2,8).

 

Weil in Vers 5 – und im Exkurs über Johannes den Täufer (1,6-8) und den dann folgenden Aussagen über Annahme und Ablehnung des Lichtes (1,9-13) – von Jesus als dem menschgewordenen Wort gesprochen wird, ist es auch sinnvoll, mit diesem Vers einen neuen Abschnitt beginnen zu lassen: „Im ersten Teil zeigt sich ein Einschnitt zwischen V. 4 und V. 5 daran, dass die Verben in V. 1-4 in Zeitformen der Vergangenheit gehalten sind, während in V. 5a ein Präsens erscheint. Die ersten vier Verse beschreiben das anfängliche Sein des Wortes bei Gott und sein schöpferisches Wirken. Dass demgegenüber mit der Aussage von V. 5 ein großer Sprung vorausgesetzt wird, wird auch daran deutlich, dass für das nun als Licht prädizierte Wort Johannes der Täufer angeführt wird. Es ist also jetzt das konkret geschichtliche Auftreten und Wirken Jesu im Blick, ohne dass sein Name hier schon genannt wird.“ (Wengst,35).

 

Auch wenn die Aussage „das Licht scheint in der Finsternis“ nicht einfach das Licht meint, dass von Anbeginn der Schöpfung in der Welt ist, sondern speziell auf Jesus bezogen werden muss, ist die Feststellung sinnvoll: „in Jesus ist nicht ein anderes Licht erschienen als das, welches in der Schöpfung immer schon leuchtete.“ Denn: „Schöpfung und Erlösung stehen in Kontinuität.“ (Bultmann, 27).

 

Nun wird gesagt, dass dieses Licht „in der Finsternis“ scheint. Über den Ursprung der „Finsternis“ erfahren wir an dieser Stelle nichts. Der Satz geht vermutlich von der Voraussetzung aus, „dass das φῶς [Licht] in der Schöpfung vergeblich geleuchtet hat … So waren also die Menschen, denen jetzt das Licht der Heilshoffnung scheint, vorher ohne Licht! Sie waren in der Finsternis!“ (Bultmann, 27).

 

Was aber ist mit dem Begriff „Finsternis“ gemeint? Folgende Paralleltexte sind hier von Bedeutung:

1,10-11

(10) Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. (11) Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

8,12

Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.

12,35

Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.

12,46

Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.

1 Joh 2,8-11

 (8) Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt. (9) Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. (10) Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. (11) Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet.

Weil die Aussage, dass die „Finsternis“ das Licht „nicht ergriffen“ hat, in 1,10-11 mit anderen Worten wiederholt und dort von der „Welt“ gesprochen wird, ist mit der „Finsternis“ die „Welt“ gemeint. Es ist ein Bereich, dem der Mensch ohne Licht von außen verfallen ist, in dem der Mensch „verblendet“ ist und orientierungslos „wandelt“. Mit anderen Worten: Wenn hier von der Finsternis gesprochen wird, ist von der „dem Bösen verfallenen Menschenwelt“ die Rede (Schnackenburg I, 222).

 

„Hier stoßen wir zum ersten Mal auf den Gegensatz: Licht – Finsternis, der noch in Joh 3,19; 8,12; 12,35.46; vgl. 9,4; 11,9f (Tag und Nacht); ferner 1 Joh 1,6f; 2,8.9-11 hervortritt und für die Frage nach dem joh. ‚Dualismus‘ wichtig ist … Diese … Redeweise stellt den göttlichen Bereich des Lichtes grundsätzlich dem widergöttlichen der Finsternis gegenüber (Joh 1,5a; 1 Joh 1,7; 2,9). Jesus, das ‚Licht der Welt‘ lässt die göttliche Licht- und Lebensmacht wieder in den verfinsterten Kosmos einbrechen (1,9; 3,19; 12,46). In diese Sicht ist auch die heilsgeschichtliche Dynamik eingeschlossen, dass dem göttlichen Lichtträger während seines irdischen Aufenthaltes nur eine bestimmte Zeit des Wirkens zugemessen ist (9,4; 11,9f; 12,35), und daraus entspricht der dringliche Aufruf zum Glauben (12,35f), der im Sinne des Evangelisten aber nicht nur die damaligen Menschen, sondern alle Hörer der Christusbotschaft trifft (8,12; 12,46). Schließlich wird das Bild auch auf das moralische Verhalten der Menschen angewendet, das durch den eschatologischen Lichtträger aufgedeckt wird (3,19ff; vgl. 1 Joh 1,6f; 2,9ff). Alle diese Aspekte sind im Kommen des ‚Lichtes‘ Christus angesprochen und miteinander verbunden: der siegreiche und heilbringende Einbruch des göttlichen Lichtes in den verfinsterten Kosmos, der Anruf an die Menschen, sich hier und jetzt für das ‚Licht‘ zu entscheiden, die Scheidung der Menschen nach ihrer ‚Licht- und Finsterniszugehörigkeit‘ und das unaufhaltsame Vordringen des göttliches Lichtes (vgl. 1 Joh 2,8),“ (Schnackenburg I, 223f.)

„Strittig ist die Frage, ob man den joh Dualismus (die Gegenüberstellung von LichtFinsternis, Leben-Tod, oben-unten u.a.) auf die jüdische Apokalyptik im Allgemeinen oder Qumran im Besonderen zurückführen kann oder gar zurückführen muss. Bei aller Nähe bleiben Unterschiede zu beiden Größen: – Die Apokalyptik scheidet scharf zwischen »diesem bösen Äon« (die jetzt bestehende Welt) und der von Gott her kommenden Welt. Das JohEv betont noch stärker als die sonstige urchristliche Tradition, dass das Heil bereits in der Gegenwart zugänglich ist, im Glauben an Jesus Christus (s.u. 3.4.2). – In Qumran steht der Dualismus nicht in Zusammenhang mit der Messiaserwartung (sondern dem rechten Verständnis der Tora und ihrer Befolgung). Dagegen ist er im JohEv eingebunden in die Christologie: Der Glauben an Jesus Christus entscheidet, ob die Menschen auf der Seite des Lichtes oder der Finsternis stehen.“

http://willie.itg.uni-muenchen.de:9070/biblisch/nt2/InfosLehramt/RepEinleitung/JohEvRep.pdf (Zugriff 19.03.2019).

 

(5b) „Doch was genau bedeutet das Verb καταλαμβάνω [LB übersetzt mit „ergreifen“)? ‚Erfassen‘ im Sinne von ‚in Besitz nehmen‘ und ‚überwältigen‘ (…)? Oder ‚erfassen‘ im Sinne von ‚begreifen, verstehen‘?“ (Zumstein, 78). Erneut ist die Parallele in 1,10-11 hilfreich, in der davon die Rede ist, dass die Welt das Licht nicht „erkannte“ und nicht aufnahm. Daher kommt nur die zweite Deutung in Frage.

 

 

Nach der Feststellung, dass die Finsternis das Licht nicht erkannt hat, folgt ein Exkurs über Johannes den Täufer. Darin geht es um dessen Beziehung zum Licht.

 

(6) Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. (7) Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten. (8) Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. 

 

(6) Von Johannes der Täufer wird gesagt, dass er „von Gott gesandt“ ist. Das ist eine hohe Auszeichnung. Im Johannesevangelium werden auch Jesus (3,17; 3,34; 5,36.38; 6,29.57; 7,29; 8,42; 10,36; 11,42; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21) und der Heilige Geist (14,26; 15,26) als Gesandte Gottes bezeichnet. Gleichzeitig aber wird gesagt, dass er „ein Mensch“ war – womit möglicherweise bereits angedeutet werden soll, dass er sich nicht auf Augenhöhe mit dem Logos befindet.

 

(7) Was ist seine Funktion und seine Aufgabe? „Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten.“  Davon, dass er das auch tut, ist dann konkret in 1,19ff. die Rede: „Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden zu ihm sandten Priester und Leviten von Jerusalem, dass sie ihn fragten: Wer bist du?“ (1,19). Sein Zeugnis gipfelt in der Aussage: „Und ich hebe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.“ (1,34). Damit wird zugleich gesagt, dass Johannes selbst „nur“ als Zeuge für Jesus von Bedeutung ist.

 

Durch sein Zeugnis sollen „alle“ zum Glauben kommen – also Israel (1,31: „… damit er Israel offenbar werde …“) und darüber hinaus die ganze „Welt“ (1,29: „… Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“). Wenn im Johannesevangelium vom „Glauben“ die Rede ist, ist kein allgemeiner „Gottglaube“, sondern der Glaube an Jesus Christus gemeint (20,31: „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist …“).

 

(8) Abschließend wird ausdrücklich festgestellt, dass der Täufer „nur“ Zeuge ist: „Er war nicht das Licht.“ Hier wird „die apologetische Tendenz des Evangelisten erkennbar: Er bekämpft die Ansicht, dass Johannes das ‚Licht‘ war. Der Vers … wendet sich gegen eine Überschätzung des Täufers, von der wir durch spätere, freilich spärliche Nachrichten wissen. Die noch im 2. Jh. fortlebenden, damals mit dem Christentum konkurrierenden Johannesjünger hielten ihn selbst für den Messias.“ (Schnackenburg I, 228). Deshalb wird hier noch einmal die Aussage von 1,7 wiederholt, die deutlich macht, worauf sich der Auftrag Johannes des Täufers beschränkt: „… er sollte zeugen von dem Licht“.

 

 

Nach den Ausführungen über Johannes den Täufer knüpft der Prolog wieder an die vorangegangenen Aussagen an, in denen es um die Beziehung des Logos zur Welt (1,3-4) und die Reaktion der Welt auf das Licht ging (1,5).

 

(9) Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. (10) Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. (11) Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. (12) Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, (13) die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. 

 

(9) Erneut stellt sich die Frage, ob mit dem „Licht, das alle Menschen erleuchtet“, das Licht des Lebens gemeint ist, das seit der Schöpfung in der Welt ist (1,4). Es wird vermutet, dass diese Aussage sich im ursprünglichen Hymnus auf die Schöpfungsordnung bezog, nach der Bearbeitung für den Prolog aber das fleischgewordene Wort gemeint ist (Schnackenburg I, 229f.). Dafür spricht vor allem, dass in den Versen 6-8 von Johannes dem Täufer die Rede ist.

 

Der Ausdruck „das wahre Licht“ bezieht sich möglicherweise noch einmal auf Johannes, zu dem V. 8 bemerkt hatte: „Er war nicht das Licht.“  Im Unterschied zu Johannes ist das „Wort“  als das „wahre Licht“ zu bezeichnen. „Gewiss war der Täufer ein weithin scheinendes Licht, aber er war nicht das wahrhaftige Licht. Diese Bezeichnung kommt allein dem göttlichen Logos zu.“ (Schneider, 58).

 

Dieses Licht „erleuchtet“ (vgl. die Beschreibung der Aufgabe des Lichts im Johannesevangelium zu 1,4) – und zwar „alle Menschen“ (vgl. 1,7: „Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Licht zeuge, auf dass alle durch ihn glaubten.“).

 

Unklar ist die Zuordnung der letzten Worte des Verses: „kommend in diese Welt“ (so wörtlich).

·         Beziehen sich diese Worte auf alle Menschen, so dass mit „das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“ zu übersetzen ist?

·         Oder beziehen sie sich auf das Licht, so dass es heißen muss: „Das war das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet.“ (EB)?

Das muss vom Zusammenhang her entschieden werden. Der spricht eher für die zweite Übersetzung, weil es im Prolog um das In-die-Welt-Kommen des Logos geht, dessen Höhepunkt die Inkarnation ist und sich die Formel „in die Welt kommen“ sich im Johannesevangelium nicht auf Menschen, sondern auf das Kommen des Lichtes bzw. Jesu Christi bezieht (3,19; 6,14; 9,39; 10,36; 11,27; 12,46; 16,28; 18;37; Ausnahme: Joh.16,21; so auch Zumstein, 81; Schnackenburg I, 208.231; Wengst, 50).

 

(10-11) Aber obwohl der Logos als „das  wahre Licht … alle Menschen erleuchtet“ und „die Welt … durch dasselbe gemacht ist“ (vgl. 1,3: „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht …“), verweigert die Welt ihm die Anerkennung (vgl. 1,5: „… und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“).

 

Die Absurdität dieser Ablehnung wird in Vers 11 noch stärker verdeutlicht. Nicht ganz klar ist aber, wer mit „sein Eigentum“ und mit „die Seinen“ gemeint ist. Ist die Schöpfung gemeint, die dem Logos als Schöpfer gehört? Oder geht es speziell um die Juden, von denen es in Ex.19,5 heißt: „… so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“ und der Hinweis, dass „die Seinen“ ihn nicht aufnahmen meint den Unglauben der Juden?

 

Interessant ist die Parallele zwischen „die Welt erkannte es nicht“ und „die Seinen nahmen ihn nicht auf“. Den Logos nicht zu erkennen heißt offenbar so viel wie sich zu weigern, ihn aufzunehmen. „Die Verweigerung ist also nicht Resultat von Unwissenheit oder eines Missverständnisses, sondern ein willentlicher, in aller Freiheit begangener Akt.“ (Zumstein,82f.).

 

(12-13) „Der niederdrückenden Tatsache, dass der Logos bei seinem Kommen in die Welt auf das Unverständnis und die Ablehnung der Menschen stieß, stellt nun der Evangelist die andere gegenüber, dass es doch Menschen gab, die ihn ‚annahmen’.“ (Schnackenburg I, 236). Sie bilden aber nur eine Ausnahme von der in 1,10-11 genannten Regel.

 

Ihnen gab das Wort „Macht, Gottes Kinder zu werden“. „Macht“ steht hier für „Erlaubnis“, „Bevollmächtigung“, „Berechtigung“ (Wengst, 53). „Die Erlangung der Gotteskindschaft ist dem Menschen von sich aus unmöglich (…), sie muss ihm erst (durch den Heilsmittler) als reale Möglichkeit und Instantsetzung aufgrund göttlicher Macht erschlossen werden.“ (Schnackenburg I, 237). Es ist ein Geschenk der göttlichen Liebe: Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! …“ (1 Joh 3,1).

 

Was ist mit dem Begriff „Gottes Kinder“ gemeint? „Der Gedanke von Gott als dem Vater und dem Menschen als seinem Kinde begegnet in der ganzen Religionsgeschichte von den primitiven Stufen an. Er differenziert sich einmal danach, wieweit im Vaterbegriff die Momente des Natürlichen (des Erzeugers), des Rechtlichen (des Herrn) und Persönlichen (der Fürsorge) betont oder gegeneinander abgewogen sind; ferner aber danach, ob das Kindschaftsverhältnis des Menschen als ein von vornherein gegebenes, selbstverständliches gilt, oder als ein nicht-selbstverständliches, in dem nur besondere Menschen stehen, oder das unter besonderen Bedingungen von Gott geschenkt wird. Vor allem wird der Gedanke der Gotteskindschaft des Menschen zu einem ‚eschatologischen‘ Begriff, sowohl im Judentum wie in den Mysterienreligionen: Gottes Kind (oder Sohn) ist der Mensch dann, wenn er in eine neue Existenz versetzt wird, sei es am Ende des jetzigen Äon, wenn Gott die Welt erneuert, sei es schon jetzt, dadurch, dass der Mensch durch die Weihe des Mysteriums zum Sohne Gottes gemacht, neu ‚gezeugt‘ oder ‚geboren‘ wird.“ (Bultmann, 36f.). Es geht also um eine neue Existenzweise – um ein Leben aus Gott.

 

Die Sätze „wie viele ihn aber aufnahmen“ und „denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“ werden nun kommentiert.

 

Zunächst der Satz „wie viele ihn aber aufnahmen“. Der erläuternde Kommentar zeigt: Es geht um diejenigen, „die an seinen Namen glauben“. Jesus Christus „aufnehmen“ (λαμβάνω) meint nichts anderes, als an ihn zu glauben. Das zeigt sich z.B. in 3,11-12, wo es zunächst heißt „ihr nehmt unser Zeugnis nicht an“ und der nächste Vers mit „glaubt ihr nicht“ beginnt (vgl. auch 3,32f. –  3,36; 5,43 – 5,44; 12,48 – 12,46).

 

„Die Ausdrucksweise ‚glauben an seinen Namen‘ ist typisch und ausschließlich johannäisch (vgl. 2,23; 3,18; 1 Joh.3,23; 5,13) und soll besagen, dass man die Person Jesu im vollen Umfang seiner Selbstoffenbarung bejahen muss.“ (Schnackenburg I, 238).

 

Die Annahme Jesu bzw. der Glaube an ihn „ist die für den Heilsempfang notwendige Grundhaltung“ (Schnackenburg I, 238), das eine Werk, das Gott gefällt (vgl. 6,28-29: „(28) Da fragten sie ihn: Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken? (29) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.“).

 

Dann wird der Satz „denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“  erläutert. Dazu wird zunächst betont, welches Verständnis abzulehnen ist. „Gottes Kinder“ sind „nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes … geboren“.

 

Ähnliche Formulierungen finden sich im Buch Weisheit und im äthiopischen Buch Henoch:

äthHen 15,1-4

(1) Und er hob an und sprach zu mir, und ich hörte auf seine Stimme: „Fürchte dich nicht, Henoch, du gerechter Mann und Schreiber der Gerechtigkeit, tritt heran und höre mein Wort! (2) Und geh hin, sage den Wächtern des Himmels, die dich geschickt haben, für sie zu bitten: Ihr hättet für die Menschen bitten sollen, aber nicht die Menschen für euch. (3) Warum habt ihr den hohen und heiligen, ewigen Himmel verlassen, und bei den Weibern geschlafen und mit den Töchtern der Menschen euch verunreinigt, und habt euch Weiber genommen und wie die Kinder der Erde getan und Riesensöhne erzeugt? (4) Und ihr wäret doch heilig, geistig, teilhaftig des ewigen Lebens, und habt euch nun durch das Blut der Weiber verunreinigt und mit dem Blute des Fleisches Kinder gezeugt und nach dem Blute der Menschen begehrt und habt Fleisch und Blut hervorgebracht, wie auch die zu tun pflegen, die da sterblich und vergänglich sind!

Weisheit 7,1-2

(1) Auch ich bin ein sterblicher Mensch wie alle andern, ein Nachkomme des ersten aus Erde geschaffenen Menschen, und bin Fleisch, im Mutterleib (2) zehn Monate lang gebildet, im Blut zusammengeronnen aus Mannessamen und der Lust, die im Beischlaf dazukam. 

 

Warum wird so drastisch formuliert? „Die scharfe Antithese erklärt sich wohl positiv aus dem theologischen Interesse des Evangelisten, die Gotteszeugung als menschlich unverfügbares und unbegreifliches Werk des göttlichen Geistes hinzustellen (…).“ (Schnackenburg I, 239: vgl. 3,6: Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.“).

 

Positiv wird der Satz „denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“ mit den Worten „aus Gott geboren“ kommentiert. „Gottes Kind wird man nicht durch die natürliche Geburt, überhaupt nicht durch einen natürlichen Werdeprozess, sondern durch ein übernatürliches, allein von Gott bewirktes Geschehen.“ (Schnackenburg I, 238).

 

Was aber heißt, „aus Gott geboren“ zu werden? Das ist ein Mysterium: Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (3,8). Es vollzieht sich in der Taufe: „Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ (3,5). Durch die Geburt „aus Wasser und Geist“ werden Menschen zu Kindern Gottes und empfangen das Heil.

 

Zusammenfassend kann gesagt werden: „Natürlich sind sie – wie andere Menschen auch – ‚aus Blut und aus Fleisches- und aus Manneswillen‘, also auf dem üblichen Weg zur Welt gekommen. Sie sind ja leibhaftige Menschen und keine Scheinwesen. Aber Glaubende sind sie nicht aus natürlichen Voraussetzungen. Dass es überhaupt welche gibt, die im Wirken und Geschick Jesu die Präsenz des Gottes Israels erkennen und anerkennen, das kann der Evangelist nur als Wunder verstehen, als Tat Gottes selbst.“ (Wengst,53).

 

 

 

1.3    Das Bekenntnis zum fleischgewordenen Wort und seiner alles überragenden Bedeutung (1,14-18)

 

Die Verse 14-18 sind der Höhepunkt des Prologs. Das wird schon daran deutlich, dass plötzlich wieder ausdrücklich vom „Wort“ gesprochen wird. Auch der Stil ändert sich. Handelte es sich bisher um Feststellungen, wechselt der Text jetzt „zum bekenntnishaften Stil“ (Zumstein, 84). Dabei geht es um das Bekenntnis der Gemeinde, weshalb oft in der ersten Person Plural formuliert wird. Auch inhaltlich wird ein Höhepunkt erreicht. Zwar war bereits vom In-die-Welt-Kommen des Logos die Rede – aber nicht in der Intensität, wie dies in den Versen 14-18 der Fall ist.

 

(14) Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. 

 

(14a) Der Vers „beginnt mit der Antwort auf eine Frage, die in den V.1-13 ohne Antwort geblieben ist, nämlich nach dem ‚Wie‘ des In-die-Welt-Kommens des Logos.“ (Zumstein, 84): „Und das Wort ward Fleisch.“

 

Das Verb γίνομαι („werden“) bezeichnet den Übergang in einen neuen Zustand. Der Logos verändert seine „Seinsweise“: „Vorher war er in Herrlichkeit bei seinem Vater (vgl. 17,5.24), jetzt übernimmt er die Niedrigkeit der irdisch-menschlichen Existenz; vorher war er ‚bei Gott‘ (1,1b), jetzt schlägt er sein Zelt bei den Menschen auf, und zwar in menschlicher Gestalt, in der vollen Realität der σὰρξ [Fleisch] …“ (Schnackenburg I, 242). Das Verb steht im Aorist (ἐγένετο), wodurch deutlich wird, dass sich dieser Übergang  in einem bestimmten historischen Ereignis vollzieht.

 

Was aber soll es heißen, dass das Wort „Fleisch“ [σὰρξ] geworden ist? Im Johannesevangelium hat dieser Begriff folgende Bedeutungen:

Bedeutung

Textbeispiel

Mensch

17,2: so wie du ihm Macht gegeben über alle Menschen [wörtl.: alles Fleisch], auf das er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hat: das ewige Leben.

menschlich i.S.v. begrenzt;

irdisch gebunden

3,6: Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.

6,63: Der Geist ist’s, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.

etwas äußerlich Vorhandenes; etwas, was vor Augen liegt

8,15: Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand.

 

Gemeint ist also, dass der Logos ein ganz konkreter Mensch geworden ist und als solcher auch den Begrenzungen des Menschlichen unterlag. Dieser Befund wird dadurch bestätigt, dass auch die Gegner Jesu nach den Schilderungen des Johannesevangeliums immer wieder betonen, was nicht zu bestreiten ist: dass er ein Mensch ist (7,27; 10,33; 19,5).

 

Es wird hier also gesagt, „dass der an Gottes Seite weilende, mit voller göttlicher Würde bekleidete, ganz vom göttlichen Leben erfüllte Logos in die Sphäre des Irdisch-Menschlichen, des Stofflich-Vergänglichen eintrat, indem er Fleisch wurde.“ (Schnackenburg I, 241).

 

„Das Ärgernis ist also durch das ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο [das Wort ward Fleisch] aufs stärkste betont. Denn so gewiss der Mensch Offenbarung als Geschehen in der menschlichen Sphäre ersehnt und erwartet, so gewiss erwartet er auch – in dem ihn charakterisierenden Selbstwiderspruch – , dass sich die Offenbarung doch irgendwie ausweisen und auszeichnen müsse. Der Offenbarer muss – so gewiss er in menschlicher Gestalt erscheinen muss – doch etwas Strahlendes, Mysteriöses oder Faszinierendes haben als Heros oder θεος νθρωπος [göttlicher Mensch], als Wundertäter oder Mystagoge. Seine Menschlichkeit muss eigentlich nur seine Verkleidung, muss transparent sein; der Blick will sich gerade von der Menschlichkeit wegwenden und die Göttlichkeit sehen oder ahnen, will durch die Verkleidung durchdringen. Oder die Menschlichkeit soll nur die Veranschaulichung, die ‚Gestalt‘ des Göttlichen sein.

Solchem Verlangen zum Trotz heißt es: das Logos ward Fleisch. In purer Menschlichkeit ist er der Offenbarer. Gewiss, die Seinen sehen auch seine δόξα [Herrlichkeit] (v.14b); und wäre sie nicht zu sehen, so könnte ja von Offenbarung nicht die Rede sein. Aber das ist die Paradoxie, die das ganze Evg durchzieht, dass die δόξα [Herrlichkeit] nicht neben der σὰρξ [Fleisch] oder durch sie, als durch ein Transparent, hindurch zu sehen ist, sondern nirgends anders als in der σὰρξ [Fleisch], und dass der Blick es aushalten muss, auf die σὰρξ [Fleisch] gerichtet zu sein, ohne sich beirren zu lassen, - wenn er die δόξα [Herrlichkeit] sehen will.“ (Bultmann,40f.).

 

Die „Zwei-Naturen-Lehre“, nach der Jesus Christus zugleich „wahrer Mensch“ und „wahrer Gott“ ist, steht der Aussage des Johannes nicht entgegen, ist aber eine spätere Entwicklung. Der Kirchenvater Hieronymus betonte im Zusammenhang mit 1,14a: „Das Wort ist Fleisch geworden … und hörte doch nicht auf, das zu sein, was es vorher war.“ (Hieronymus, Adv. Jovinianum II, 29, zit. in Schnackenburg I, 243).

 

(14b) Die Fleischwerdung, die Inkarnation, wird durch die Aussage „und wohnte unter uns“ bestätigt und „verschärft“ (Schnelle, 58).

 

Das Wort σκηνόω kann mit „wohnen“ oder „zelten“ übersetzt werden. Im Hintergrund ist dabei möglicherweise das Motiv des Zeltheiligtums, in dem Gott mitten unter seinem Volk gewohnt hat (2 Mos 25,8: „Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, dass ich unter ihnen wohne.“). Dazu passt, dass das Buch Jesus Sirach von der Weisheit sagt, dass sie ihr „Zelt“ ursprünglich „in der Höhe“ hatte, dann aber  „im heiligen Zelt“ eine „feste Stätte“ gefunden hat (JesSir 24,1-11). Eine andere Möglichkeit ist, dass der Begriff „zelten“ die Vergänglichkeit betonen soll. In diesem Sinne spricht Paulus vom Leib des Menschen als einem „Zelthaus“ (2 Kor 5,1-4, EB). Beide Motive beschreiben „die Gegenwart Gottes unter seinen Geschöpfen unter dem Aspekt der Verletzlichkeit“ (Zumstein, 85).

 

Diese Gegenwart Gottes hat „in der Mit-Menschlichkeit konkret Gestalt angenommen“ (Zumstein, 85). Der Logos wohnte „unter uns“.

 

Das geht über alle anderen Vorstellungen einer Gegenwart Gottes bei den Menschen weit hinaus. „Die pagane [heidnische] Erzählkultur um Götter in Menschengestalt, um Helden wie Herakles oder andere Heroen gehörte zur Sozialisation vieler Heidenchristen, vor allem in den Städten Kleinasiens oder Griechenlands. Ebenso waren Judenchristen die Vorstellungen vom ‚Wohnen‘ Gottes und vom weltzugewandten Wirken der Weisheit oder von Engeln gegenwärtig. Zugleich können daraus aber keine einlinigen Ableitungsversuche gemacht werden, weil es jeweils gravierende Unterschiede zur christlichen Inkarnationsvorstellung gibt. Sowohl Gottes ‚Wohnen‘ als auch das Herabkommen der göttlichen Weisheit oder einzelner Engel betonen zwar die Welt- und Menschenzugewandtheit Jahwes, aber es gibt keine wirkliche frühjüdische Inkarnationsvorstellung, die das bleibende Kommen Gottes bzw. des Messias ‚im Fleisch‘ aussagt. Zudem war gerade für Juden der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der römische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten oder verehrt zu werden. Ebenso stellt die Verwandlung der griechischen Götter als temporäre Annahme menschlicher Gestalt keine wirkliche Inkarnation dar und die Heroen sind zwar ethische Vorbilder, aber ihnen kommt in keiner Weise eine soteriologische Funktion zu.“ (Schnelle, 70).

 

(14c) So paradox es klingt: Gerade in der Inkarnation des Logos offenbart sich seine Herrlichkeit: „… und wir sahen seine Herrlichkeit“.

 

Was ist die „Herrlichkeit“ (δόξα)? „Der Begriff ‚Herrlichkeit‘ bezeichnet die Art und Weise, in der ein besonderer Rang oder Status für andere anschaulich und augenfällig wird. Dabei wird man sich unter der Herrlichkeit von Menschen, die sich beispielsweise in besonderer Prachtentfaltung ausdrücken kann, etwas anderes vorzustellen haben als unter der Herrlichkeit eines Tieres oder einer Pflanze – erstere könnte etwa in besonderer Stärke, letztere in besonderer Schönheit zu finden sein. Entsprechend vielgestaltig und schillernd hat der Begriff auch in den biblischen Schriften Niederschlag gefunden; er kann, je nach Kontext, Eigenschaften wie Pracht, Glanz, Schönheit, Stärke, Kraft, Größe, Hoheit oder Majestät nahestehen, und steht in einem besonderen Naheverhältnis zu dem Begriff der ‚Ehre‘ …

Das gilt zunächst auch für diejenigen Texte, die auf die Herrlichkeit Gottes Bezug nehmen … Mit ‚Herrlichkeit‘ [δόξα] wird der hebräische Begriff kabod übersetzt, dessen Ausgangsbedeutung ‚Gewicht, Schwere‘ ist; als ‚Erhabenheit, Herrlichkeit‘ wird damit das bezeichnet, was Eindruck macht. Dieses Lexem ist durch seine charakteristische Verwendung besonders im Rahmen der Exodus- und Tempeltradition (…) so stark geprägt, dass man an manchen Stellen fast von einem Terminus Technicus (der sich auf die Erscheinung bzw. Präsenz Gottes bezieht) sprechen kann.“

https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/herrlichkeit-nt/ch/bea43b3156bab8f31e773a1a6b46d8c9/ (Zugriff 15.4.2019)

 

Das Sehen der Herrlichkeit steht im Johannesevangelium im Zusammenhang mit Jesu Wundern:

Das Weinwunder

Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn. (2,11)

Die Auferweckung des Lazarus

Jesus spricht zu ihr [Marta]: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? (11,40).

 

(14d) Aber auch der Prolog selbst präzisiert, inwiefern die Gläubigen die „Herrlichkeit“ des Logos gesehen haben. Es handelt sich um „eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“.

 

Genauer übersetzt: Es handelt sich um „eine Herrlichkeit, als eines Einziggeborenen (μονογενής) vom Vater“ (zum Begriff μονογενής vgl. 1,18; 3,16-18; 1 Joh 4,9). Die Herrlichkeit des fleischgewordenen Wortes „hängt ursächlich an seiner Herkunft von Gott“ (Schnelle, 60). Weil er von Gott kommt, ist er „voller Gnade und Wahrheit“.

 

Dass der fleischgewordene Logos „voller“ (πλήρης) Gnade und Wahrheit ist, meint, dass ihm die göttliche „Fülle“ (πλήρωμα) wohnt (1,16: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade …“)

 

Der Begriff „Gnade“ (χάρις) ist im johannäischen Schrifttum – im Unterschied zum paulinischen Schrifttum – kein Schlüsselbegriff und meint daher einfach so viel wie „gnädiges Geschenk“. Inhaltlich geht es bei diesem Geschenk um die „Wahrheit“.

 

Was aber ist „Wahrheit“? Dazu finden sich im Johannesevangelium vor allem die folgenden Aussagen:

1,17

Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

5,33

Ihr habt zu Johannes geschickt, und er hat die Wahrheit bezeugt.

8,32

und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

8,40

Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der euch die Wahrheit gesagt hat, wie ich sie von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan.

14,6

Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

16,13

Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden …

17,17

Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit.

„Wahrheit“ ist also „die sich offenbarende göttliche Wirklichkeit“ (Bultmann, 50).

 

Die „Herrlichkeit“ des fleischgewordenen Wortes besteht also darin, dass es von Gott kommt, dass in ihm die Fülle Gottes wohnt und dass sich in ihm Gott selbst offenbart.

 

 

Auch Johannes der Täufer, von dem bereits in 1,6-8 die Rede war, bezeugt den vorzeitlichen Ursprung des Logos.

 

(15) Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. 

 

(15) Das Wort „ausrufen“ (κράζω) findet sich im Johannesevangelium noch in 7,28.37; 12,13.44; 19,12. Dabei handelt es sich jeweils um „gewichtige Proklamationen“ (Wengst, 62). Hier besteht sie in der Feststellung des Täufers über den Fleischgewordenen, dass er – obwohl er nach ihm kommt – bereits vor ihm da war, weil er eher war als er.

 

Hintergrund ist vermutlich die Vorstellung, dass derjenige, der zuerst auftritt, wichtiger ist als der, der ihm später folgt. Dann wird hier festgestellt:  „Das Zuvorkommen des Täufers im Laufe der Geschichte ist kein Argument, das eine Überlegenheit begründen könnte, da dieses zeitliche Vorher-Dasein angesichts des ontologischen Vorher-Seins des Präexistenten keine nennenswerte Bedeutung hat.“ (Zumstein, 86).

 

 

Die beiden letzten Verse des Prologs stellen die überragende Bedeutung des fleischgewordenen Wortes heraus.

 

(16) Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. (17) Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. (18) Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.

 

(16) Im Anschluss an 1,14d („voller Gnade und Wahrheit“) wird betont, dass im fleischgewordenen Wort die göttliche „Fülle“ gegenwärtig ist (vgl. 1,14) – also Heil und Segen im Überfluss. „Deshalb kann das Verhältnis der Glaubenden zu ihm bezeichnet werden als ein ständiges Empfangen aus der Überfülle …“ (ThWNT VI, 301).

 

Was ist damit gemeint, dass „Gnade um Gnade“ empfangen wird? „Die Grundbedeutung der bei Johannes nur hier erscheinenden Präposition ἀντὶ ist ‚gegen, statt, anstatt‘, was durch die übliche Übersetzung ‚Gnade um Gnade‘ gerade nicht ausgelöst wird. Vielmehr muss mit ‚anstelle‘ übersetzt werden, wodurch von V. 17 her eine Überbietung und Ablösung ausgesagt wird: Das Gesetz ist eine Gabe, aber der Logos ist die Gabe schlechthin.“ (Schnelle, 61).

 

Wer spricht hier eigentlich bzw. wer ist hier „wir“? Johannes der Täufer? Die Gemeinde? Beide zugleich? Auch wenn diesem Vers eine Aussage des Täufers vorangeht, ist es eher unwahrscheinlich, dass er hier in solch überschwänglichen Worten über den Logos spricht.

 

(17) Warum hat Jesus Christus – hier fällt erstmals der Name des fleischgewordenen Logos – eine so überragende Bedeutung? Dazu werden Mose und Jesus Christus miteinander verglichen.

 

Durch Mose ist „das Gesetz … gegeben“. Wenn im Johannesevangelium vom „Gesetz“ (νόμος) die Rede ist, geht es nur um dessen Bedeutung für die Juden:

7,19

Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben? Und niemand unter euch tut das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten?

8,17

Auch steht in eurem Gesetz geschrieben, dass zweier Menschen Zeugnis wahr sei.

10,34

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter«?

(vgl. auch 18,31; 19,7).

Nirgend ist davon die Rede, dass das „Gesetz“ für Christen von Bedeutung ist.

 

Interessant ist auch die Beobachtung, dass das Gesetz durch Mose „gegeben“ wurde. Dadurch wird „die heilsmittlerische Funktion des Mose relativiert, die sich auf die bloße Übergabe des Gesetzes beschränkt“ (Schelle, 61).

 

Demgegenüber ist durch Jesus Christus „die Gnade und Wahrheit … geworden“ (zu den Begriffen „Gnade“ und „Wahrheit“ vgl. die Auslegung zu 1,14).

 

Was heißt das? Das „Gesetz“ wird nicht „zu den Akten gelegt“, aber überboten. „Die Legitimität des atl. Erbes wird nicht in Frage gestellt. Das Gesetz, das Mose empfangen hat, ist Ausdruck des Willens Gottes, aber noch nicht seine letzte Gabe. Wie sich in Kapitel 6 zeigt, waren die Gaben des Mose noch nicht die vollkommenen Gaben Gottes. Die eschatologische Gabe Gottes … hat nicht das Angesicht des Gesetzes, sondern ist die Gabe des Lebens in Fülle, wie die Begriffe ‚Gnade‘ und ‚Wahrheit‘ es zeigen (vgl. V.14 und V.16). Die Aussage des Täufers verkündigt jedoch nicht, dass das atl. Erbe außer Kraft gesetzt wäre, sondern dessen Überbietung.“ (Zumstein, 87). „Erst durch die Offenbarung Jesu Christi … sind Gottes ‚Gnade und Wahrheit‘ zur Wirkung gekommen, noch nicht durch die Gabe des Gesetzes an Mose.“ (Ulrich Wilckens, Theologie NT, 1.4; 172).

 

(18) Abschließend wird begründet, warum die „Gnade und Wahrheit“, die „durch Jesus Christus geworden“  sind, das Gesetz überbieten.

 

Zunächst wird festgestellt: „Niemand hat Gott je gesehen.“  Das Verb steht im Perfekt und unterstreicht so den definitiven Charakter dieser Unmöglichkeit. Ähnlich heißt es im AT: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (2 Mos 33,20).

 

Dogmatisch betrachtet bedeutet dies: „Der Weg der direkten Gotteserkenntnis ist versperrt, und damit auch die Möglichkeit der natürlichen Theologie.“ (Zumstein, 87f.). Dabei ist aber zu berücksichtigen: „Der Satz wendet sich nicht an Gottsucher, die um ihre Blindheit wissen, sondern an Blinde, die meinen, dass sie sähen (9,39) …“ (Bultmann, 55).

 

Der erste Teil des Verses ist aber nur die Grundlage dafür, um die alles überragende Bedeutung Jesu Christi herauszustellen. Dabei greift der Prolog Aussagen aus den vorangegangenen Abschnitten auf. Jesus Christus ist der „Eingeborene“ (1,14; zur Auslegung s. dort). Aber noch mehr: er ist „Gott“ (vgl. 1,1c: „… und Gott war das Wort“ und 20,28: „… Mein Herr und mein Gott!“). Und schließlich: er ist „in des Vaters Schoß“, was an 1,1b („und das Wort war bei Gott“) erinnert und die herzliche Beziehung zwischen Vater und Sohn unterstreicht.

 

Dieser Jesus Christus – und das ist die Pointe des Satzes und des ganzen Prologs – hat Gott „verkündigt“. Das griechische Wort (ἐξηγέομαι) kann mit „erklären“, „berichten“ oder „darstellen“ übersetzt werden. Es handelt sich um ein „Wort, das seit alters technisch gebraucht wird für die Interpretation des Götterwillens durch die Fachleute, Priester und Wahrsager, das aber auch von Gott selbst, der seinen Willen kundtut, gebraucht werden kann“ (Bultmann, 56).

 

Gemeint ist: „Jesus selbst ist durch sein Reden und Handeln die ‚Auslegung Gottes‘ in der Welt. An seiner Gestalt wird sichtbar, wer Gott ist. Er ist die geglückte Interpretation Gottes, die Übersetzung Gottes in den Bereich des Menschlichen.“ (Blanck, zit. in Zumstein, 88). Oder anders (in der Sprache der Theologen) formuliert: „Jesus ist der Exeget Gottes …“ (Schnelle, 63).

 

Weil Jesus Christus „der Eingeborene“ ist, „der Gott ist und in des Vaters Schoß ist“  kann nur er Gott verkündigen. „Anders gesagt, nur derjenige, der Gott gleich war und der in seiner Nähe lebte, konnte Wort Gottes unter den Menschen werden.“ (Zumstein, 88). Deshalb hat die Verkündigung Jesu Christi ein „Alleinstellungsmerkmal“.

 

Das ist gleichzeitig so etwas wie eine inhaltliche Überschrift über das Johannesevangelium. Indem es von Jesus Christus spricht, zeigt es, wer Gott ist. Deshalb ist es unverzichtbar. Vielleicht kann man es sogar so formulieren: „Nach Joh ist es also legitim zu behaupten, dass man Jesus als Logos Gottes genauso wenig außerhalb des Evangeliums begegnen kann, wie man Gott nicht außerhalb der Person Jesu erkennen kann. Das Werk des Evangelisten bekommt damit seine theologische Rechtfertigung. Dem Leser wurde eine klare Leseanweisung geliefert. Die Erzählung kann beginnen.“ (Zumstein, 88).

 

 

Zusammenfassung:

Weil Jesus Christus der fleischgewordene Logos ist, der von Anfang an auf die Seite Gottes gehört, alles geschaffen hat und den Menschen Orientierung gibt, erfahren wir nur durch ihn, wer Gott ist und wie er es mit uns meint. Trotzdem wird er abgewiesen. Aber alle, die an ihn glauben, werden Gottes Kinder.