9       Paulus als Gefangener (21,15-28,31)

 

9.1    Paulus kommt nach Jerusalem (21,15-26)

 

Von Cäsarea aus geht es auf die letzte Etappe – nach Jerusalem.

 

(15) Nach diesen Tagen aber machten wir uns bereit und gingen hinauf nach Jerusalem. (16) Es gingen auch einige der Jünger aus Cäsarea mit uns und brachten uns zu einem gewissen Mnason, einem Zyprer, einem alten Jünger, bei dem wir herbergen sollten. (17) Als wir aber in Jerusalem angekommen waren, nahmen uns die Brüder freudig auf. 

 

(15-16) Nachdem sich Paulus und seine Begleiter „mehrere Tage“ in Cäsarea aufgehalten haben (21,10), bereiten sie die letzte Etappe ins ca. 100 Kilometer entfernte Jerusalem vor und ziehen los. Sie werden von einigen Mitglieder der Gemeinde Cäsarea begleitet und zu Mnason einem Zyprer, einem alten Jünger“ gebracht, um dort zu übernachten. Unklar ist, ob es sich um eine Übernachtung während der Reise oder um eine Unterkunft in Jerusalem handelt. Wenn von Mnason als „einem alten Jünger“ gesprochen wird, bezieht sich das vermutlich nicht in ersten Linie auf sein Alter, sondern darauf, dass er schon lange zur Gemeinde gehört.

 

(17) In Jerusalem angekommen, werden Paulus und seine Begleiter durch „die Brüder“ freudig aufgenommen. Ob es sich bei ihnen um eine besondere Gruppe innerhalb der Jerusalemer Gemeinde handelt, ist unklar – liegt aber nahe, da es eine Reihe von Gemeindegliedern gibt, die Paulus kritisch gegenüber stehen (21,20f.).

 

 

Der „offizielle“ Teil des Besuchs beginnt am nächsten Tag.

 

(18) Am folgenden Tag aber ging Paulus mit uns zu Jakobus, und alle Ältesten kamen dahin. (19) Und als er sie begrüßt hatte, erzählte er eines nach dem anderen, was Gott unter den Nationen durch seinen Dienst getan hatte. (20) Sie aber, als sie es gehört hatten, verherrlichten Gott und sprachen zu ihm: Du siehst, Bruder, wie viele Tausende der Juden es gibt, die gläubig geworden sind, und alle sind Eiferer für das Gesetz. (21) Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, dass du alle Juden, die unter den Nationen sind, Abfall von Mose lehrest und sagest, sie sollen weder die Kinder beschneiden noch nach den Gebräuchen wandeln. (22) Was nun? Jedenfalls werden sie hören, dass du gekommen bist. (23) Tu nun dies, was wir dir sagen: Wir haben vier Männer, die ein Gelübde auf sich genommen haben. (24) Diese nimm zu dir und reinige dich mit ihnen und trage die Kosten für sie, damit sie das Haupt scheren lassen! Und alle werden erkennen, dass nichts an dem ist, was ihnen über dich berichtet worden ist, sondern dass du selbst auch zum Gesetz stehst und es befolgst. (25) Was aber die Gläubigen aus den Nationen betrifft, so haben wir geschrieben und verfügt, dass sie sich sowohl vor dem Götzenopfer als auch vor Blut und Ersticktem und Unzucht hüten sollen. (26) Dann nahm Paulus die Männer zu sich, und nachdem er sich am folgenden Tag gereinigt hatte, ging er mit ihnen in den Tempel und kündigte die Erfüllung der Tage der Reinigung an, bis für einen jeden von ihnen das Opfer dargebracht war.

 
(18)
Paulus und seine Begleiter begeben sich zu Jakobus, der nach dem Weggang des Petrus zum Leiter der Jerusalemer Gemeinde geworden war (12,17) und auch beim Apostelkonzil das entscheidende Wort gesprochen hatte (15,13-20). Die „Ältesten“ der Gemeinde kommen hinzu.

 

(19-21) Nach der Begrüßung berichtet Paulus davon, wie sehr Gott seine Missionsarbeit „unter den Nationen“ gesegnet hat (vgl. 14,27; 15,4.12). Die Leiter der Jerusalemer Gemeinde loben Gott dafür, kommen aber direkt im Anschluss daran auf die Lage in Jerusalem und Judäa zu sprechen. Sie betonen, dass es „viele Tausende der Juden … gibt, die gläubig geworden sind“, die (als Judenchristen) allesamt „Eiferer für das Gesetz“ sind. Leider haben sie gerüchteweise gehört, dass Paulus die Juden(christen), die in der Diaspora leben, zum „Abfall von Mose“, also vom Gesetz des Mose, auffordert und sie überredet, ihre Kinder nicht mehr beschneiden zu lassen und nicht mehr „nach den Gebräuchen“ zu leben.

 

Auf dem Apostelkonzil war beschlossen worden, dass diejenigen, die „sich von den Nationen zu Gott bekehren“, also die „Heidenchristen“, sich nicht beschneiden lassen müssen und nur gebeten werden, „dass sie sich enthalten von den Verunreinigungen der Götzen und von der Unzucht und vom Erstickten und vom Blut“ (15,19f.). Dieser Beschluss galt aber nicht für Judenchristen.

 

Es ist nicht anzunehmen, dass Paulus in judenchristlichen Gemeinden den „Abfall von Mose“ verkündigt hat. Aber in Gemeinden, die sich sowohl aus Judenchristen, als auch aus Heidenchristen zusammensetzten, ergaben sich besondere Herausforderungen. Der Galaterbrief zeigt, dass Heiden- und Judenchristen Tischgemeinschaft gepflegt haben – und die Judenchristen sich dabei nicht mehr an alle „Gebräuche“ gehalten haben (Gal.2,11-13). Paulus kritisiert, dass die Tischgemeinschaft (vorrübergehend) beendet wurde, als „einige von Jakobus kamen“. Andererseits hat Paulus in Sachen Beschneidung sehr wohl auf die Juden Rücksicht genommen und seinen Mitarbeiter Timotheus selbst beschnitten (Apg.16,3).

 

(22-24) Aber die Vorwürfe stehen im Raum. Außerdem haben die judenchristlichen „Eiferer für das Gesetz“ mitgekommen, dass Paulus nach Jerusalem gekommen ist. Daher bitten Jakobus und die Ältesten Paulus darum, etwas zu tun, um sie diese Gruppe zu beruhigen.

 

In ihrer Gemeinde haben sie „vier Männer, die ein Gelübde auf sich genommen haben“. Dabei handelt es sich um ein Nasiräer-Gelübde, das in 4.Mos.6,1-21 beschrieben wird. Wer ein solches Gelübde ablegt, tut das, um sich für eine bestimmte Zeit Gott in besonderer Weise zu weihen (4.Mos.6,2). Damit sind eine Reihe von Auflagen verbunden, vor allem der Verzicht auf alkoholische Getränke (4.Mos.6,3.4). Außerdem ist es ihm verboten, Tote zu berühren (4.Mos.6,6-12; die Berührung von Toten macht nach 4.Mos.19,11 „unrein“). Als äußeres Zeichen seiner Weihe darf er sich während der Zeit des Gelübdes nicht die Haare schneiden (4.Mos.6,5). Abgeschlossen wird das Gelübde mit Opfern, die am „Zelt der Begegnung“ bzw. am Tempel zu vollziehen sind (4.Mos.6,13ff). Dabei schneidet sich der Nasiräer die Haare und verbrennt sie zusammen mit den Opfern (4.Mos.6,18).

 

Paulus soll sich der „vier Männer“ annehmen. Dass jemand anders die Kosten für die das Nasiräat abschießende Opfer übernimmt, ist damals übliche Praxis (StrBill II, 755).

 

Was aber ist gemeint, dass Paulus sich „mit ihnen“ reinigen soll. Soll er ebenfalls ein komplettes Nasiräer-Gelübde vollziehen? Das hätte mindestens 30 Tage in Anspruch genommen (StrBill II, 757). Deshalb geht es vermutlich um ein Reinigungsopfer.

 

Während des Nasiräats konnte sich der Nasisäer verunreinigen. Sofern es sich dabei um eine schwere Verunreinigung handelte (z.B. Berührung eines Toten, 4. Mos.6,6-12), waren daraufhin alle bisherigen Tage des Nasiräats „verfallen“ (4.Mos.6,12). Wenn es sich jedoch um einen „minderschweren“ Fall von Verunreinigung handelte, musste das Nasiräat nur bis zur Wiederstellung der Reinheit durch eine zweimalige Reinigung (am dritten und am siebten Tag mit Hilfe von Entsündigungswasser  gemäß 4.Mos.19,8-12) unterbrochen werden. Dafür, dass es sich um einen solchen Fall handelt, spricht auch Vers 27, wo davon die Rede ist, „die sieben Tage beinahe vollendet waren“.

 

Ein solches Reinigungsopfer war aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Nasiräat von Bedeutung, sondern galt für verschiedene Formen der Unreinheit. Deshalb konnte auch Paulus eine solche Reinigung vollziehen. „Was … die levitische Unreinheit des Apostels Paulus betrifft, so wird man vor allem daran zu denken haben, dass alle aus dem Ausland kommenden Personen als unrein galten … Die … jedem aus dem Auslande kommenden Israeliten anhaftende Unreinheit schloss zwar vom Betreten des äußeren Vorhofs des jerusalemischen Tempels nicht aus …, wohl aber machte sie das siebentägige Reinigungsverfahren bei demjenigen Israeliten notwendig, der wie der Apostel Paulus an einem Opfermahl teilzunehmen gedachte.“ (StrBill II, 759).

 

So ist es zu verstehen, dass Paulus sich „mit ihnen“ reinigen soll.  Ziel dieser Aktion ist, dass Paulus seine Gesetzestreue unter Beweis stellt und die Gerüchte zerstreut werden.

 

(25) Damit keine Missverständnisse aufkommen, wird an dieser Stelle noch einmal das Aposteldekret zitiert, in dem festgehalten ist, dass es  für „die Gläubigen aus den Nationen“ – im Unterschied zu den Judenchristen – gilt (vgl. 15,19f.).

 

(26) Paulus folgt der Bitte von Jakobus und den Ältesten.

 

 

9.2    Die Gefangennahme des Paulus (21,27-36)

 

Dass Paulus auf die Bitte des Jakobus und der Ältesten eingeht, führt zu seiner Gefangennahme.

 

Es beginnt mit einem Vorfall im Tempel.

 

(27) Als aber die sieben Tage beinahe vollendet waren, sahen ihn die Juden aus Asien im Tempel und brachten die ganze Volksmenge in Aufregung und legten die Hände an ihn (28) und schrien: Männer von Israel, helft! Dies ist der Mensch, der alle überall lehrt gegen das Volk und das Gesetz und diese Stätte; und dazu hat er auch Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte verunreinigt. (29) Denn sie hatten vorher den Trophimus, den Epheser, mit ihm in der Stadt gesehen, von dem sie meinten, dass Paulus ihn in den Tempel geführt habe.

 

(27a) „Am letzten der sieben Tages seiner Reinigungspflicht (s. zu V. 24.26) begibt sich Paulus in den Tempel, um sich dem abschießenden Reinigungsritus zu unterziehen und um – wohl unmittelbar daran anschließend – die vier Nasisäer auszulösen. In eben diesem Augenblick, als die von Jakobus gestellte schwierige Bedingung fast erfüllt ist, bricht das Verhängnis herein.“ (Roloff, 317).

 

Als Paulus in den Tempel geht, sind dort auch „Juden aus Asien“. Gemeint ist die Provinz Asien, deren Hauptstadt Ephesus ist. Das zeigt sich auch daran, dass sie „… Trophimus, den Epheser“ zusammen mit Paulus „ in der Stadt gesehen“ haben (21,29). Zu Beginn seines Wirkens in Ephesus war Paulus auch in der dortigen Synagoge aktiv. „Als aber einige sich verhärteten und ungehorsam blieben und vor der Menge schlecht redeten von dem Weg, trennte er sich von ihnen und sonderte die Jünger ab und unterredete sich täglich in der Schule des Tyrannus.“(19,9).

 

(27b-29) Als sie nun Paulus im Tempel antreffen, bringen sie „die ganze Volksmenge in Aufregung“ und werden handgreiflich. Sie rufen ihre Volksgenossen um Hilfe. Zur Begründung behaupten sie, dass er „überall … gegen das Volk und das Gesetz und diese Stätte“ lehrt (vgl. der Vorwurf gegenüber Stephanus in 6,13). Außerdem habe er „auch Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte verunreinigt“. D.h.: Sie „werfen Paulus vor, er haben Griechen (= unreine Heiden) über den für die Heiden zugänglichen äußeren Tempelbezirk (…) geführt, was den Heiden bei Todesstrafe verboten war. Die Grenze war mit Warnungstafeln markiert, auf denen – wie wir durch archäologische Funde wissen – griechisch und lateinisch zu lesen stand: ‚Kein einem anderen Volk Angehöriger darf eintreten in die Schranke und Umwallung um das Heiligtum. Wer dabei ergriffen wird, verursacht sich selbst die darauf folgende Todesstrafe.‘“ (Pesch II, 225; vgl. StrBill II, 761f.).

 

„Die Anschuldigung, so wird in einem Nachtrag, der ihr Zustandekommen erklärt, hinzugefügt, beruht freilich auf einem Irrtum der blinden Eiferer. Sie haben zuvor einen heidnischen Landsmann aus Ephesus … zusammen mit Paulus in der Stadt gesehen und daraus – da sie ihm das zutrauten – geschlossen, Paulus habe ihn in den inneren Tempelbezirk geführt.“ (Pesch II, 225; zu Trophimus vgl. 20,4).

 

 

Die Unruhen breiten sich auf ganz Jerusalem aus und rufen die römische Besatzungsmacht auf den Plan.

 

(30) Und die ganze Stadt kam in Bewegung, und es entstand ein Zusammenlauf des Volkes; und sie ergriffen Paulus und schleppten ihn aus dem Tempel, und sogleich wurden die Türen geschlossen. (31) Während sie ihn aber zu töten suchten, kam an den Obersten der Schar die Anzeige, dass ganz Jerusalem in Aufregung sei; (32) der nahm sofort Soldaten und Hauptleute mit und lief zu ihnen hinab. Als sie aber den Obersten und die Soldaten sahen, hörten sie auf, den Paulus zu schlagen.

 

(30) Es entsteht ein regelrechter Volksauflauf. Paulus wird unter Anwendung von Gewalt aus dem Tempel geführt. Hinter ihm werden die Türen geschlossen. Dabei handelt es sich vermutlich um die Türen, der vom Vorhof der Heiden zum Inneren des Tempels führt. Ziel der Aktion dürfte sein, Tumult, Tätlichkeiten und Blutvergießen vom Tempel fernzuhalten.

 

(31-32) Als sie dabei sind, Paulus zu lynchen, erfährt der Anführer der römischen Besatztruppen, die sich in der Burg Antonia oberhalb des Tempels an dessen Nordwestecke befinden, was los ist. Er befehligt eine „Schar“, d.h. eine Kokorte von ca. 1.000 Soldaten. Zusammen mit einigen Hauptleuten (Zenturio, Anführer einer Hundertschaft) und ihren Soldaten begibt er sich hinab zum Tempel. Als die Volksmenge die römischen Soldaten kommen sehen, hören sie auf, „den Paulus zu schlagen“.

 

 

Das Eingreifen der Römer rettet Paulus das Leben.

 

(33) Dann näherte sich der Oberste, ergriff ihn und befahl, ihn mit zwei Ketten zu fesseln, und erkundigte sich, wer er denn sei und was er getan habe. (34) Die einen aber riefen dies, die anderen jenes in der Volksmenge; da er aber wegen des Tumultes nichts Gewisses erfahren konnte, befahl er, ihn in das Lager zu führen. (35) Als er aber an die Stufen kam, geschah es, dass er wegen der Gewalt der Volksmenge von den Soldaten getragen wurde; (36) denn die Menge des Volkes folgte und schrie: Weg mit ihm!

 

(33-34) Der Oberst ergreift Paulus und befiehlt, „ihn mit zwei Ketten zu fesseln“. Darin erfüllt sich die Prophezeiung des Agabus (21,10-11). Anschließend erkundigt er sich beim Volk, um wen es sich bei dem Verhafteten handelt und was er getan hat. Da die Volksmenge wild durcheinander schreit und er keine klare Auskunft erhält, befiehlt er seinen Soldaten, Paulus in ihre Kaserne zu führen.

 

(35-36) Auf dem Weg hoch zur Burg Antonia sind viele Stufen zu überwinden. Als der an Händen und Füßen gefesselte Paulus am Fuß der Treppe ankommt, muss er wegen der mit Gewalt nachdrängenden Volksmenge von den Soldaten getragen werden. Sie befindet sich noch immer in hellem Aufruhr und schreit: „Weg mit ihm!“ Gemeint es so viel wie „beseitigt ihn!“ (vgl. 22,22).

 

Über die Jerusalemer Urgemeinde und ihre Reaktion auf die Ereignisse wird nichts gesagt. Überhaupt ist von ihr bis zum Ende der Apostelgeschichte nicht mehr die Rede.

 

 

9.3    Die Rede des Paulus an das Volk und seine Berufung auf sein römisches Bürgerrecht (21,37-22,29)

 

Paulus erhält die Möglichkeit, sich in einer Rede vor der wütenden Menschenmenge zu verteidigen.

 

(37) Und als Paulus eben in das Lager hineingebracht werden sollte, spricht er zu dem Obersten: Ist es mir erlaubt, dir etwas zu sagen? Er aber sprach: Verstehst du Griechisch? (38) Du bist also nicht der Ägypter, der vor diesen Tagen eine Empörung gemacht und die viertausend Mann Sikarier in die Wüste hinausgeführt hat? (39) Paulus aber sprach: Ich bin ein jüdischer Mann aus Tarsus, Bürger einer nicht unberühmten Stadt in Zilizien. Ich bitte dich aber, erlaube mir, zu dem Volk zu reden! (40) Als er es aber erlaubt hatte, winkte Paulus, auf den Stufen stehend, dem Volk mit der Hand; nachdem aber eine große Stille eingetreten war, redete er sie in hebräischer Mundart an und sprach: (1) Ihr Brüder und Väter, hört jetzt meine Verantwortung vor euch! (2) Als sie aber hörten, dass er sie in hebräischer Mundart anredete, hielten sie noch mehr Ruhe. Und er spricht:


(21,37-38)
Als die Soldaten Paulus die Stufen zur Burg Antonia hochgetragen (21,35) und die Kaserne fast erreicht haben, spricht er den Obersten an und bittet darum, ihm etwas sagen zu dürfen. Dadurch bemerkt der Oberste, dass Paulus der griechischen Sprache mächtig ist und deshalb nicht „der Ägypter“ sein kann, für den er ihn gehalten hat.

 

Durch den jüdischen Geschichtsschreiber Josephus wissen wir von einem Ägypter, der nach Jerusalem kam und sich für einen Propheten ausgab. Er wollte das Volk auf den Ölberg führen und auf sein Geheiß hin die Mauern Jerusalems zum Einsturz bringen, um dann mit seinen Anhängern in die Stadt einzudringen und die Römer zu besiegen. Tatsächlich gelang es ihm, ca. 30.000 Anhänger um sich zu scharen. Der römische Statthalter Felix aber zog ihm mit seinen Soldaten entgegen und schlug ihn vernichtend. Dabei wurde er auch vom Volk unterstützt.  4.000 Anhänger des „Ägypters“ wurden getötet, 200 gefangen genommen. Nur der Anführer und einige wenige seiner Anhänger konnten sich retten und versuchten, das Volk auch weiterhin zum Krieg gegen die Römer aufzustacheln vgl. (Jüdische Altertümer, 20,169-172; Jüdischer Krieg 2, 261-263).

 

(21,39) Daraufhin erklärt Paulus dem Obersten, dass er ein jüdischer Mann aus Tarsus ist – also „Bürger einer nicht unberühmten Stadt in Zilizien“. Dann nutzt er den offensichtlichen Irrtum des Obersten, um ihn zu bitten, sich in einer Rede an das Volk zu wenden.

 

(21,40-22,2) Als ihm das tatsächlich erlaubt wird, bringt er das Volk mit einer Geste, die den Beginn einer Rede ankündigt, zur Ruhe (vgl. 12,17; 13,16; 26,1). Er redet in hebräischem Dialekt (so wörtlich), spricht sie als „Brüder und Väter“ an (vgl. Stephanus in 7,2. Die „Brüder“ sind die Volksgenossen, die „Väter“ möglicherweise die Mitglieder des Hohen Rats) und erklärt, dass er etwas zu seiner Verteidigung sagen möchte (gr.Apologia“: Verteidigung, Rechtfertigung, Verteidigungsrede). Als das Volk ihn in hebräischer Sprache reden hört, wird es noch ruhiger.

 

 

In der nun folgenden Verteidigungsrede betont Paulus seine tiefe Verwurzelung im jüdischen Glauben. Zunächst weist er darauf hin, dass er ein „Eiferer für Gott“ war.

 

(3) Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien; aber auferzogen in dieser Stadt, zu den Füßen Gamaliels unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes, war ich, wie ihr alle heute seid, ein Eiferer für Gott. (4) Ich habe diesen Weg verfolgt bis auf den Tod, indem ich sowohl Männer als auch Frauen band und in die Gefängnisse überlieferte, (5) wie auch der Hohepriester und die ganze Ältestenschaft mir Zeugnis gibt. Von ihnen empfing ich auch Briefe an die Brüder und reiste nach Damaskus, um auch diejenigen, die dort waren, gebunden nach Jerusalem zu führen, dass sie bestraft würden.

 

(3) Paulus stellt sich als „jüdischer Mann“ vor, der zwar „in Tarsus in Zilizien“ geboren wurde, aber in Jerusalem aufgewachsen und von Rabbi Gamaliel (vgl. zu 5,34) aufs Genaueste im Gesetz unterwiesen worden ist. So wurde er zu dem, was seine Zuhörer heute sind: „ein Eiferer für Gott“.

 

(4-5) Als ein solcher „Eiferer“ hat er „diesen Weg verfolgt bis auf den Tod“. „Weg“ ist eine der frühesten Bezeichnungen für den christlichen Glauben (9,2; 19,9.23; 24,14). Gemeint ist also, dass er die Christen „bis auf den Tod verfolgt hat“. Er hat „sowohl Männer als auch Frauen“ gefangen genommen und „in die Gefängnisse“ gesteckt. „Der Hohepriester und die ganze Ältestenschaft (zu den Ältesten in der Leitung des jüdischen Volkes vgl. 4,5) können das bezeugen. Sie haben ihn auch mit Empfehlungsschreiben an die Leiter der jüdischen Gemeinde in Damaskus ausgestattet, damit er auch die dortigen Christen gefangen nehmen und nach Jerusalem bringen kann, damit sie dort bestraft werden (vgl. 9,2.14).

 

 

Aber auf dem Weg nach Damaskus und in Damaskus ist etwas Entscheidendes geschehen.

 

(6) Es geschah mir aber, als ich reiste und mich Damaskus näherte, dass um Mittag plötzlich aus dem Himmel ein helles Licht mich umstrahlte. (7) Und ich fiel zu Boden und hörte eine Stimme, die zu mir sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? (8) Ich aber antwortete: Wer bist du, Herr? Und er sprach zu mir: Ich bin Jesus, der Nazoräer, den du verfolgst. (9) Die aber bei mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht. (10) Ich sagte aber: Was soll ich tun, Herr? Der Herr aber sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus! Und dort wird dir von allem gesagt werden, was dir zu tun verordnet ist. (11) Da ich aber vor der Herrlichkeit jenes Lichtes nicht sehen konnte, wurde ich von denen, die bei mir waren, an der Hand geleitet und kam nach Damaskus.

(12) Ein gewisser Hananias aber, ein frommer Mann nach dem Gesetz, der ein gutes Zeugnis hatte von allen dort wohnenden Juden, (13) kam zu mir, trat heran und sprach zu mir: Bruder Saul, sei wieder sehend! Und zu derselben Stunde schaute ich zu ihm auf. (14) Er aber sprach: Der Gott unserer Väter hat dich dazu bestimmt, seinen Willen zu erkennen und den Gerechten zu sehen und eine Stimme aus seinem Mund zu hören. (15) Denn du wirst ihm an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast. (16) Und nun, was zögerst du? Steh auf, laß dich taufen und deine Sünden abwaschen, indem du seinen Namen anrufst!

 

(6-11) Die Schilderung des Apostels Paulus entspricht weitgehend dem Bericht aus 9,3-8. An einigen Stellen weicht er jedoch davon ab. Da ist zunächst der Hinweis, dass es „um Mittag“ geschah und dass es sich um eine„helles Licht gehandelt hat (vgl. 9,3). Interessanter ist, dass sich Jesus in der Rede des Paulus als „Jesus, der Nazoräer, also als Jesus aus Nazareth, vorstellt (vgl. 9,5; zu Nazoräer vgl. 2,22; 3,6; 4,10; 6,14). Im Rahmen der Rede des Paulus an das Volk ist dieser Hinweis vermutlich so etwas wie eine „vertrauensbildende Maßnahme“. Die größte Abweichung findet sich in Vers 9. Dort ist davon die Rede, dass seine Begleiter zwar das Licht sahen, aber nicht Jesu Stimme Jesu hörten. In 9,7 wird es genau andersherum beschrieben: „Die Männer aber, die mit ihm des Weges zogen, standen sprachlos, da sie wohl die Stimme hörten, aber niemand sahen.“

 

(12-16) Der Bericht über seine Begegnung mit Hananias ist sehr viel kürzer als in 9,10-18 und ist überdies im Hinblick auf seine Zuhörer formuliert. In der Rede des Paulus wird er als „ein frommer Mann nach dem Gesetz, der ein gutes Zeugnis hatte von allen dort wohnenden Juden“ beschrieben (vgl. 9,10). Es wird nicht erwähnt, dass er Mitglied der christlichen Gemeinde in Damaskus ist (vgl. 9,10). Vers 14 hat in Kapitel 9 gar keine Entsprechung. Dass Hananias in der Rede des Paulus vom „Gott unserer Väter“ spricht, ist sicher ein weiterer Versuch, eine Verbindung zu seinen Zuhörern herzustellen. Davon, dass Paulus das Evangelium in aller Welt verkündigen soll, ist hier gar nicht die Rede. Er soll nur bezeugen, was er „gesehen und gehört“ hat. Während in Kapitel 9 die Heilung des Paulus am Ende der Begegnung mit Hananias stattfindet (9,18), stellt Paulus sie an den Anfang. Paulus schließt mit einem Hinweis auf seine Taufe und weist auch auf die Bedeutung der Taufe hin – die Abwaschung der Sünden (zum Zusammenhang von Taufe und Sündenvergebung vgl. 2,38).

 

 

Es folgt ein Bericht über eine Vision, die Paulus nach einer Rückkehr nach Jerusalem empfängt und die sich in Kapitel 9,26-30 nicht findet, wo stattdessen „nur“ von den Vorbehalten der jerusalemer Christen gegenüber ihrem einstmaligen Verfolger, seinen Streitgesprächen mit den hellenistischen Juden und der daraus folgenden Bedrohung für Leib und Leben die Rede ist.

 

(17) Es geschah mir aber, als ich nach Jerusalem zurückgekehrt war und im Tempel betete, dass ich in Verzückung geriet (18) und ihn sah, der zu mir sprach: Eile und geh schnell aus Jerusalem hinaus! Denn sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen. (19) Und ich sprach: Herr, sie selbst wissen, dass ich die an dich Glaubenden ins Gefängnis werfen und hin und her in den Synagogen schlagen ließ; (20) und als das Blut deines Zeugen Stephanus vergossen wurde, stand auch ich dabei und willigte mit ein und bewachte die Kleider derer, die ihn umbrachten. (21) Und er sprach zu mir: Geh hin! Denn ich werde dich weit weg zu den Nationen senden.

 

(17-18) Auch der Hinweis, dass er nach seiner Rückkehr „im Tempel“ gebetet hat, ist möglicherweise ein Versuch, Vorurteile abzubauen. Entscheidend aber ist sein Hinweis, dass er dort „in Verzückung geriet“, also eine Vision hatte (10,10f.), den erhöhten Christus sah und dieser ihm befahl, Jerusalem auf dem schnellsten Wege zu verlassen, weil die Juden sein Christuszeugnis nicht annehmen werden.

 

(19-21) Paulus erklärt seinen Zuhörern, dass er Christus widersprochen habe – mit dem Hinweis, dass „er als der ehemalige Verfolger gerade geeignet wäre, das Christuszeugnis in Jerusalem auszurichten“ (Pesch II, 235). Christus aber bleibt dabei und befiehlt ihm, Jerusalem zu verlassen – und begründet es damit, dass er ihn „weit weg zu den Nationen senden“ will.

 

 

Paulus möchte noch mehr sagen, wird aber an dieser Stelle unterbrochen.

 

(22) Sie hörten ihm aber zu bis zu diesem Wort und erhoben ihre Stimme und sagten: Weg von der Erde mit einem solchen, denn es darf nicht sein, dass er lebt!


„Der Befehl zur Heidenmission lässt die Volkswut wieder ausbrechen …“ (Haenchen, 561). Erneut fordern sie seine Beseitigung, also seine Tötung (vgl. 21,36).

 

 

Weil die Volksmenge wieder in Wut gerät, wird Paulus in die Kaserne gebracht – entgeht aber dem dort geplanten Verhör.

 

(23) Als sie aber schrien und die Kleider abwarfen und Staub in die Luft schleuderten, (24) befahl der Oberste, ihn ins Lager zu bringen, und sagte, man solle ihn mit Geißelhieben ausforschen, damit er erfahre, um welcher Ursache willen sie so gegen ihn schrien. (25) Als sie ihn aber für die Riemen ausgestreckt hatten, sprach Paulus zu dem Hauptmann, der dastand: Ist es euch erlaubt, einen Menschen, der Römer ist, zu geißeln, und zwar unverurteilt? (26) Als es aber der Hauptmann hörte, ging er hin und meldete dem Obersten und sprach: Was hast du vor zu tun? Denn dieser Mensch ist ein Römer. (27) Der Oberste aber kam herbei und sprach zu ihm: Sage mir, bist du ein Römer? Er aber sprach: Ja. (28) Und der Oberste antwortete: Ich habe für eine große Summe dieses Bürgerrecht erworben. Paulus sprach: Ich aber bin sogar darin geboren. (29) Sogleich nun standen die, welche ihn ausforschen sollten, von ihm ab; aber auch der Oberste fürchtete sich, als er erfuhr, dass er ein Römer sei und weil er ihn gebunden hatte.

 

(23-24) Die Volksmenge brüllt. Sie legen ihre Kleider ab – möglicherweise als Vorbereitung einer Steinigung (vgl. 7,58) – und werfen Staub in die Luft. Daraufhin befiehlt der Oberste, Paulus ins Lager zu bringen und ihn dort zu verhören, damit er endlich den Grund für die Wut des Volkes erfährt. Dieses Verhör soll „mit Geißelhieben“ geschehen. „Der Tribun hat, wie es gegenüber Sklaven und Nicht-Bürgern vorgeschrieben war, ein Verhör unter Folter angeordnet; er sieht keine besondere Schikane vor, sondern beschreitet den nach römischen Strafrecht üblichen Weg, um in Erfahrung zu bringen ‚aus welchem Grund‘ (…) die Menge so gegen Paulus aufgebracht war.“ (Pesch II, 237).

 

(25-26) Als alles für dieses „peinliche Verhör“ vorbereitet ist, fragt Paulus den Hauptmann, der die Umsetzung dieser Anweisung befehligt: „Ist es euch erlaubt, einen Menschen, der Römer ist, zu geißeln, und zwar unverurteilt?“ „Nach der Lex Porcia und der Lex Julia waren römische Bürger gegen die Anwendung der Folter beim Verhör geschützt.“ (Pesch II, 237). Deshalb geht der Hauptmann unverzüglich zum Obersten und fragt ihn, ob er weiß, was er da vorhat – weil es sich bei Paulus um einen römischen Bürger handelt.

 

(27-28) Daraufhin fragt der Oberste persönlich bei Paulus nach, ob er tatsächlich Römer ist. Paulus antwortet mit einem knappen „Ja“. Der Oberste erklärt Paulus, dass er selbst das Bürgerrecht „für eine große Summe“ erworben habe. Paulus kann demgegenüber darauf hinweisen, dass er das römische Bürgerrecht bereits von Geburt an besitzt – und damit einen höheren gesellschaftlichen Status hat.

 

(29) Unverzüglich lassen die mit der Durchführung des „peinlichen Verhörs“ beauftragten Soldaten von Paulus ab. Der Oberste bekommt es mit der Angst zu tun, weil er Paulus trotz seines römischen Bürgerrechts „gebunden hatte“ (merkwürdigerweise spricht 22,30 davon, dass Paulus erst am nächsten Tag von seinen Fesseln befreit wird).

 

 

9.4    Paulus vor dem Hohen Rat (22,30-23,11)

 

Am nächsten Tag unternimmt der Oberste einen neuen Anlauf, um Licht in die Angelegenheit zu bringen.

 

(30) Am folgenden Tag aber, da er mit Gewissheit erfahren wollte, weshalb er von den Juden angeklagt sei, machte er ihn los und befahl, dass die Hohenpriester und der ganze Hohe Rat zusammenkommen sollten; und er führte Paulus hinab und stellte ihn vor sie. (1) Paulus aber blickte den Hohen Rat fest an und sprach: Ihr Brüder! Ich bin mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt bis auf diesen Tag. (2) Der Hohepriester Hananias aber befahl denen, die bei ihm standen, ihn auf den Mund zu schlagen. (3) Da sprach Paulus zu ihm: Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Und du, sitzt du da, mich nach dem Gesetz zu richten, und, gegen das Gesetz handelnd, befiehlst du, mich zu schlagen? (4) Die Dabeistehenden aber sprachen: Schmähst du den Hohenpriester Gottes? (5) Und Paulus sprach: Ich wusste nicht, Brüder, dass es der Hohepriester ist; denn es steht geschrieben: »Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht schlecht reden (6) Da aber Paulus wusste, dass der eine Teil von den Sadduzäern, der andere aber von den Pharisäern war, rief er in dem Hohen Rat: Ihr Brüder, ich bin ein Pharisäer, ein Sohn von Pharisäern; wegen der Hoffnung und Auferstehung der Toten werde ich gerichtet. (7) Als er aber dies gesagt hatte, entstand ein Zwiespalt unter den Pharisäern und den Sadduzäern, und die Menge teilte sich. (8) Denn die Sadduzäer sagen, es gebe keine Auferstehung, noch Engel, noch Geist; die Pharisäer aber bekennen beides. (9) Es entstand aber ein großes Geschrei, und einige der Schriftgelehrten von der Partei der Pharisäer standen auf und stritten und sagten: Wir finden an diesem Menschen nichts Böses; wenn aber ein Geist oder ein Engel zu ihm geredet hat ... (10) Als aber ein großer Zwiespalt entstand, fürchtete der Oberste, Paulus möchte von ihnen zerrissen werden, und befahl, dass die Truppen hinabgingen und ihn aus ihrer Mitte wegrissen und in das Lager führten. (11) In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und sprach: Sei guten Mutes! Denn wie du meine Sache in Jerusalem bezeugt hast, so musst du sie auch in Rom bezeugen.


(30)
Der Oberste möchte „mit Gewissheit erfahren“, weshalb Paulus von den Juden angeklagt wird. Von der wütenden Volksmenge hatte er keine klare Auskunft bekommen (21,34). Ein „peinliches Verhör“ war am römischen Bürgerrecht des Paulus gescheitert (22,23-29). Daher befreit er ihn von seinen Fesseln und befiehlt den Hohepriestern und dem Hohen Rat, zusammenzukommen (die Einberufung des Hohen Rats durch einen Heiden ist eigentlich untypisch). Er führt Paulus „hinab“ (vgl. 23,10.15.20.28) – also von der über den Tempelanlagen liegenden Burg Antonia zu einem im Tempel oder in der Nähe des Tempels befindlichen Versammlungsraum des Hohen Rates – und stellt Paulus vor sie hin (vgl. 5,27).

 

(1) Paulus macht nicht etwa einen eingeschüchterten Eindruck. Im Gegenteil: Er sucht den Blickkontakt und ergreift selbst das Wort. Ähnlich wie in seiner Verteidigungsrede an das Volk stellt er seine Rechtschaffenheit heraus (22,3ff.).

 

(2) Daraufhin befiehlt der Hohepriester Hananias – er amtierte von 47/48 bis zu seiner Absetzung durch den Statthalter Felix im Jahre 59 – einem anderen Mitglied des Hohen Rates, Paulus „auf den Mund zu schlagen“, weil er dessen Verhalten missbilligt und für dreist hält.

 

(3) Paulus antwortet ihm mit einer Unheilsankündigung: „Gott wird dich schlagen.“ (vgl. 5.Mos.28,22: „Der HERR wird dich schlagen mit Schwindsucht und mit Fieberglut und mit Hitze und …“). Tatsächlich wurde Hananias schließlich von den Zeloten ermordet, weil sie ihn für zu römerfreundlich hielten. Paulus fügt noch eine Beschimpfung an: „Du getünchte Wand!“ (vgl. Hes.13,1: „Deshalb, ja deshalb, weil sie mein Volk irreführen und sagen: Friede! obwohl kein Friede da ist – und baut es eine Wand, siehe, sie bestreichen sie mit Tünche …“). Gemeint ist, dass hinter der Oberfläche alles brüchig ist bzw. dass diese Person nur eine fromme Fassade aufzuweisen hat. Paulus begründet seine harten Worte, indem er darauf hinweist, dass derjenige, der ihn „nach dem Gesetz“ richten will, selbst „gegen das Gesetz“ handelt – weil er den Befehl gegeben hat, ihn zu schlagen.

 

(4-5) Die „Dabeistehenden“ stellen Paulus zur Rede, weil er den Hohenpriester Gottes“ beschimpft hat. Paulus entschuldigt sich mit dem Hinweis, er habe nicht gewusst, dass es sich hier um den Hohepriester handelt – und zitiert das Gesetz, dass die Beschimpfung der Führer des Volkes Israel untersagt (2.Mos.22,27). Möglicherweise dient seine Entschuldigung auch dazu, dass Paulus seine Treue gegenüber Gesetz zum Ausdruck bringt.

 

(6) Anschließend lenkt Paulus die Diskussion auf ein ganz neues Thema – auf das Thema Auferstehung. Er weiß, dass der Hohe Rat aus Sadduzäern (5,17) und Pharisäern (5,34) besteht und diese in der Frage der Auferstehung heillos zerstritten sind. Deshalb betont er: „Ihr Brüder, ich bin (!) ein Pharisäer, ein Sohn von Pharisäern“ (vgl. 22,3; 26,5). Und fügt dann hinzu: „Wegen der Hoffnung und Auferstehung der Toten werde ich gerichtet.“ „Die Formulierung ist absichtlich so gewählt, damit sie zugleich auf die pharisäische Enderwartung und den christlichen Osterglauben bezogen werden kann.“ (Schneider II, 332).

 

(7-9) Sofort geraten Pharisäer und Sadduzäer aneinander. Die Sadduzäer stellen die fünf Bücher Mose in den Mittelpunkt und lehnen die Vorstellung einer Auferstehung der Toten, die nur im Buch Daniel eindeutig vertreten wird (Dan.12,2.13), ab (vgl. Lk.20,27).

 

Außerdem, so Lukas, glauben sie nicht an die Existenz von Engeln und Geistern. Vielleicht ist ihm wichtig festzuhalten, dass es nicht nur in der Frage der Auferstehung einen Dissens zwischen Sadduzäern und Pharisäern gibt. Schließlich sind Christen und Pharisäer bzgl. der Auferstehung nicht völlig einer Meinung – weil die Pharisäer die Auferstehung Jesu von den Toten ablehnen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf Engel und Geister aber vor allem deshalb von Bedeutung, weil plötzlich „einige der Schriftgelehrten von der Partei der Pharisäer“ Paulus für unschuldig erklären und das „Damaskuserlebnis“, von dem Paulus in seiner Verteidigungsrede an das Volk gesprochen hatte (22,6-11), so deuten, dass dort „ein Geist oder ein Engel zu ihm geredet hat“.

 

(10) Der Streit eskaliert. Der Oberste fürchtet, dass Paulus dabei zu Schaden kommt. Er ruft Verstärkung und lässt Paulus – wie nach dem Volksauflauf (21,32-36; 22,23) – in die Kaserne führen.

 

(11) Dort wird Paulus in der folgenden Nacht von Christus sein künftiges Schicksal offenbart. „Während die jüdischen Gegner im Tumult zurückgelassen wurden und der Tribun auch nicht die erwünschte Gewissheit über seinen Gefangenen erlangen konnte, darf Paulus … bereits den Plan Gottes und des ‚Herrn‘ Jesus erfahren, der ihm ‚in der nächsten Nacht‘ (…) erscheint, ‚zu ihm tritt‘ (…), ihm ‚Mut‘ zuspricht (…) und ihm eröffnet, dass er ebenso, wie er in Jerusalem Zeugnis abgelegt habe, auch in Rom Zeugnis ablegen ‚müsse‘ (…). Der Weg des Paulus steht unter dem ‚Muss‘ des göttlichen Willens …“ (Pesch II, 245).

 

 

9.5    Attentatsplanungen gegen Paulus und seine Überstellung nach Cäsarea (23,12-35)

 

Am Tag nach der „Begegnung“ zwischen Paulus und dem Hohen Rat schmieden einige jüdische „Glaubenskämpfer“ Attentatspläne.

 

(12) Als es aber Tag geworden war, rotteten sich die Juden zusammen, verschworen sich mit einem Fluch und sagten, dass sie weder essen noch trinken würden, bis sie Paulus getötet hätten. (13) Es waren aber mehr als vierzig, die diese Verschwörung gemacht hatten. (14) Sie kamen zu den Hohenpriestern und den Ältesten und sprachen: Wir haben uns mit einem Fluch verschworen, nichts zu genießen, bis wir den Paulus getötet haben. (15) Macht ihr nun jetzt mit dem Hohen Rat dem Obersten Anzeige, damit er ihn zu euch herabführe, als wolltet ihr seine Sache genauer entscheiden! Wir aber sind bereit, ehe er nahe kommt, ihn umzubringen.

 

(12-13) Am nächsten Morgen kommt es zu einem Treffen von „mehr als vierzig“ Personen. Sie schwören, weder zu essen noch zu trinken, „bis sie Paulus getötet hätten“. Es ist eine Art „Selbstverfluchung“ für den Fall, dass sie ihr Ziel nicht erreichen (vgl. Apg 23,14: „Wir haben uns mit einem Fluch verschworen, nichts zu genießen, bis wir den Paulus getötet haben.“), die sie anspornt, sich ganz und gar für dieses Ziel einzusetzen.

 

Vermutlich „handelt es sich um Mitglieder einer zelotischen Freiheitsbewegung, die als ‚Dolchmänner‘ (sicarii) Attentate auf Leute ausübten, die sich in ihren Augen gegen die Reinheit Israels, seines Glaubens und seines Tempels, vergangen hatten. Getreu ihrem biblischen Vorbild Pinhas (4.Mos.25,7ff.), der in einem Augenblick höchster Not [es ging – ähnlich wie bei Paulus – darum, dass eine Heidin im Zelt der Begegnung war, vgl. 4.Mos.25,6] unter Umgehung des ordentlichen Gerichtsweges einen offenkundigen Sünder inmitten der Volksmenge tötete, fühlten sie sich zu einer offiziellen Femejustiz berufen, die dann einschritt, wenn die offizielle Strafverfolgung von Gesetzesübertretern versagte. Eben dies aber mussten sie befürchten in dem Augenblick, als die Römer das Verfahren gegen Paulus in ihre Hand genommen hatten.“ (Roloff, 331).

 

(14-15) Sie informieren die Hohepriester und die Ältesten, also die politisch-religiösen Führer des Judentums, die zur Partei der Sadduzäer gehören (vgl. 4,5-6.23; die Pharisäer hatten sich nach 23,9 z.T. auf die Seite von Paulus geschlagen), über ihren feierlichen Schwur und bitten sie um Mithilfe im Hintergrund. Sie sollen Paulus zusammen mit dem Hohen Rat beim Obersten anzeigen, so dass dieser ihn noch einmal in den Hohen Rat führt, damit sie dort „seine Sache genauer entscheiden“. Während Paulus dorthin gebracht wird, wollen sie ihn umbringen.

 

 

Aber der Neffe des Paulus bekommt Wind von den Attentatsplänen.

 

(16) Als aber der Neffe des Paulus von der Nachstellung gehört hatte, kam er hin und ging in das Lager und meldete es dem Paulus. (17) Paulus aber rief einen von den Hauptleuten zu sich und sagte: Führe diesen jungen Mann zu dem Obersten! Denn er hat ihm etwas zu melden. (18) Der nun nahm ihn zu sich und führte ihn zu dem Obersten und sagt: Der Gefangene Paulus rief mich herbei und bat mich, diesen jungen Mann zu dir zu führen, der dir etwas zu sagen habe. (19) Der Oberste aber nahm ihn bei der Hand und zog sich mit ihm abseits zurück und fragte: Was ist es, das du mir zu melden hast? (20) Er aber sprach: Die Juden sind übereingekommen, dich zu bitten, dass du morgen den Paulus in den Hohen Rat hinabbringst, als wolle er etwas Genaueres über ihn erkunden. (21) Du nun, lass dich nicht von ihnen überreden! Denn mehr als vierzig Männer von ihnen stellen ihm nach, die sich mit einem Fluch verschworen haben, weder zu essen noch zu trinken, bis sie ihn umgebracht haben; und jetzt sind sie bereit und erwarten die Zusage von dir. (22) Der Oberste nun entließ den jungen Mann und befahl ihm: Sage niemandem, dass du mir dies mitgeteilt hast!

 

(16-18) Als sein Neffe von den Anschlagsplänen hört, geht er in die Burg Antonia und meldet es seinem Onkel. Die Haft des Paulus lässt offenbar Besuch zu. Der beauftragt einen Hauptmann, seinen Neffen „zu dem Obersten“ zu führen. Paulus verfügt also sogar über eine gewisse Autorität, so dass er nicht einmal den Grund für seinen Wunsch nennen muss. Der Hauptmann tut wie befohlen und erklärt dem Obersten, dass Paulus ihn beauftragt hat, „diesen jungen Mann“ zu ihm zu führen.

 

(19-22) Weil „die Wände Ohren haben“, nimmt der Oberste den Neffen des Paulus beiseite und fragt ihn, was er ihm mitzuteilen hat. Daraufhin informiert dieser ihn über die Attentatspläne und bittet den Obersten, sich nicht vom Hohen Rat überreden bzw. reinlegen zu lassen. An dieser Stelle offenbart der Bericht des Lukas, dass das Attentat für den nächsten Tag vorgesehen ist. Der Oberste verpflichtet den jungen Mann zur Verschwiegenheit.

 

 

Aufgrund seiner Informationen über die Attentatspläne befiehlt er, Paulus nach Cäsarea zu bringen.


(23) Und als er zwei von den Hauptleuten herbeigerufen hatte, sprach er: Macht zweihundert Soldaten bereit, damit sie bis Cäsarea ziehen, und siebzig Reiter und zweihundert Lanzenträger von der dritten Stunde der Nacht an! (24) Und sie sollten Tiere bereit halten, dass sie den Paulus darauf setzten und sicher zu Felix, dem Statthalter, hinbrächten.

 

(23-24) Der Oberste ruft zwei seiner Hauptleute (Zenturio, Anführer einer Hundertschaft), „zweihundert Soldaten“, „siebzig Reiter“ und „zweihundert Lanzenträger“ bereit zu machen, „damit sie bis Cäsarea ziehen … von der dritten Stunde der Nacht an“ (21:00 Uhr). Das ist ungefähr die Hälfte der römischen Soldaten, die in Jerusalem stationiert sind. „Der ungewöhnliche Aufwand für das Begleitkommando … soll die Bedeutung des Gefangenen sowie die Größe der Gefahr illustrieren.“ (Schneider II, 339). Für Paulus selbst sollen sie ein Reittier „bereit halten. Ziel ist, ihn „sicher zu Felix, dem Statthalter“ zu bringen.

 

 

Der Oberste gibt den Soldaten einen Brief an den in Cäsarea residierenden Statthalter mit.

 

(25) Und er schrieb einen Brief folgenden Inhalts: (26) Klaudius Lysias, dem hochedlen Statthalter Felix seinen Gruß! (27) Diesen Mann, der von den Juden ergriffen wurde und nahe daran war, von ihnen umgebracht zu werden, habe ich ihnen, indem ich mit dem Kriegsvolk einschritt, entrissen, da ich erfuhr, dass er ein Römer sei. (28) Da ich aber die Ursache wissen wollte, weshalb sie ihn anklagten, führte ich ihn in ihren Hohen Rat hinab. (29) Da fand ich, dass er wegen Streitfragen ihres Gesetzes angeklagt war, dass aber keine Anklage gegen ihn vorlag, die des Todes oder der Fesseln wert wäre. (30) Da mir aber ein Anschlag hinterbracht wurde, der gegen den Mann im Werk sei, habe ich ihn sofort zu dir gesandt und auch den Klägern befohlen, vor dir zu sagen, was gegen ihn vorliegt.

 

(25-26) Der Brief beginnt – wie damals üblich – damit, dass Absender und Empfänger genannt werden und der Empfänger gegrüßt wird. An dieser Stelle erfahren wir den Namen des Obersten: „Klaudius Lysias. Dabei ist Lysias vermutlich sein eigentlicher Name. Wer das römische Bürgerrecht erwarb (22,28), nahm oft den Namen des gerade regierenden Kaisers als Zweitnamen an (hier: Klaudius). Felix amtierte ab 52/53 römischer Statthalter. Er „… war ein Freigelassener und hatte seine Stellung seinem Bruder, einem Günstling des Kaisers Klaudius zu verdanken. Tacitus (…) berichtet von ihm, er habe ‚königliche Macht in der Gesinnung eines Sklaven ausgeübt‘. Unter seiner Prokuratur mehrten sich in Palästina die von den Zeloten geschürten Unruhen, gegen die er mit aller Härte vorging.“ (Pesch II, 250).

 

(27-30) Klaudius Lysias berichtet Festus kurz was geschehen ist: Dass Paulus kurz davor war, von den Juden gelyncht zu werden und er ihn gerade noch gerettet hat, nachdem er erfahren hatte, dass er Römer ist (etwas anders als der Bericht in 21,27-22,29). Er schildert auch die Szene im Hohen Rat (22,30-23,11). An dieser Stelle gibt er seine Einschätzung des Falles, von der bisher noch nichts zu lesen war: Dass es um innerjüdische Streitfragen der Gesetzesauslegung geht, die weder Todesstrafe noch Fesseln rechtfertigen. Schließlich berichtet er, dass er von Anschlagsplänen gegen Paulus erfahren hat und er ihn deshalb sofort zu ihm geschickt hat – und auch seinen jüdischen Anklägern befohlen hat, vor ihm, dem Statthalter Felix, auszusagen, „was gegen ihn vorliegt“.

 

 

So geschieht es dann auch.

 

(31) Die Soldaten nun nahmen, wie ihnen befohlen war, den Paulus und führten ihn bei Nacht nach Antipatris. (32) Am folgenden Tag aber ließen sie die Reiter mit ihm fortziehen und kehrten nach dem Lager zurück. (33) Und als diese nach Cäsarea gekommen waren, übergaben sie dem Statthalter den Brief und führten ihm auch den Paulus vor. (34) Als er es aber gelesen und gefragt hatte, aus welcher Provinz er sei, und erfahren, dass er aus Zilizien sei, (35) sprach er: Ich werde dich verhören, wenn auch deine Ankläger angekommen sind. Und er befahl, dass er in dem Prätorium des Herodes bewacht werde.

 

(31-33) In einer Nacht- und Nebelaktion führen die Soldaten Paulus aus der Stadt und bringen ihn nach Antipatris, einem ca. 60 Km entfernten Militärposten (für einen nächtlichen Fußmarsch eigentlich viel zu weit). Am folgenden Tag kehren die Soldaten um, während die Reiter zusammen mit Paulus weiter nach Cäsarea ziehen. Dort angekommen, übergeben sie dem Statthalter den Brief und führen ihm den besonderen Gefangenen vor.

 

(34-35) Nachdem Felix den Brief gelesen hat, fragt er Paulus, aus welcher Provinz er kommt – und erfährt, dass er aus Zilizien stammt. Wahrscheinlich will er wissen, ob er überhaupt zuständig ist bzw. eine Chance an, den „Fall“ zu „delegieren“.

 

„Im Normalfall war der Statthalter der Provinz, in der ein Vergehen vorlag, für den Prozess zuständig (forum delecti), doch gab es auch die Möglichkeit der Überweisung an das Gericht der Herkunftsprovinz (forum domicilii). „Felix, der erfährt, dass Paulus aus Zilizien stammt, macht davon keinen Gebrauch.“ (Pesch II, 251). „Der Grund dafür könnte darin gelegen haben, dass Zilizien damals noch den Status eines der Provinz Syrien angeschlossenen separaten Verwaltungsbezirkes hatte und dass es der Legat von Syrien ablehnte, mit vergleichsweise geringfügigen Rechtsfällen wie diesem behelligt zu werden. Eine Rolle gespielt haben könnte auch der Umstand, dass Tarsus, die Heimatstadt des Paulus, eine civitas libera war, deren Bürger der Provinzialgerichtsbarkeit nicht unterstanden.“ (Roloff, 333).

 

Da eine „Überweisung“ des „Falles“ nicht möglich ist, erklärt er Paulus, dass er ihn verhören wird, sobald seine „Ankläger“ da sind. Bis dahin bringt er ihn in seinem Amtssitz, dem früheren Palast Herodes des Großen, unter und lässt ihn bewachen.

 

 

9.6    Paulus in Cäsarea zur Zeit des Statthalters Felix (24,1-27)

 

Klaudius Lysias, der Oberste, hatte „den Klägern befohlen“, Paulus vor dem Statthalter Felix anzuklagen (23,30). So geschieht es dann auch.

 

(1) Nach fünf Tagen aber kam der Hohepriester Hananias mit einigen Ältesten und Tertullus, einem Anwalt, herab, und sie machten bei dem Statthalter Anzeige gegen Paulus. (2) Als er aber gerufen worden war, begann Tertullus die Anklage und sprach: Da wir großen Frieden durch dich genießen und da durch deine Fürsorge für diese Nation Verbesserungen getroffen worden sind, (3) so erkennen wir es allseits und überall, hochedler Felix, mit aller Dankbarkeit an. (4) Damit ich dich aber nicht länger aufhalte, bitte ich dich, uns in Kürze nach deiner Geneigtheit anzuhören. (5) Denn wir haben diesen Mann als eine Pest befunden und als einen, der unter allen Juden, die auf dem Erdkreis sind, Aufruhr erregt, und als einen Anführer der Sekte der Nazoräer; (6) der auch versucht hat, den Tempel zu entheiligen, den wir auch ergriffen haben; (8) von ihm kannst du selbst, wenn du ihn verhört hast, über alles dies Gewissheit erhalten, dessen wir ihn anklagen. – (9) Aber auch die Juden griffen Paulus mit an und sagten, dass dies sich so verhalte.

 

(1-4) Bereits fünf Tage später steht „der Hohepriester Hananias mit einigen Ältesten und Tertullus, einem Anwalt“ vor der Tür, um „bei dem Statthalter Anzeige gegen Paulus“ zu erstatten. Nachdem man Paulus herbeigerufen hat, beginnt der Anwalt seine Anklagerede.

 

Er setzt mit schmeichelhaften Worten über den Statthalter ein („captatio benevolentiae“: seit der Antike gebräuchliche rhetorische Figur, bei der sich der Redner oder Autor zu Anfang mit schmeichelhaften Worten direkt an seine Hörer bzw. Leser wendet und sie bittet, das Folgende freundlich anzunehmen). Dabei übertreibt er maßlos – vor allem, wenn man bedenkt, dass Felix alles andere als beliebt ist. Er preist den „großen Frieden“ und die „Verbesserungen“, die er gebracht habe und betont, dass die Juden dies „mit aller Dankbarkeit“ anerkennen. Deshalb wolle er seine Zeit auch nicht über Gebühr in Anspruch nehmen und bittet ihn lediglich darum, ihnen kurz seine geneigte Aufmerksamkeit zu schenken.

 

(5-8) Der Anwalt bezeichnet Paulus „als eine Pest“ – also als eine Person mit einer gefährlich-ansteckenden Wirkung. „Unter allen Juden, die auf dem Erdkreis sind“, habe er „Aufruhr erregt“. Außerdem sei er ein „Anführer der Sekte der Nazoräer(2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9). Schließlich habe er versucht, „den Tempel zu entheiligen“ (vgl. 21,28-29). „Auf Tempelschändung stand die Todesstrafe, und da die Römer auch Schutzmacht des Tempels waren, war versuchte Tempelschändung vor dem Gericht des Prokurators justiziabel.“ (Pesch II, 256). Die Römer waren „in diesem Punkt dem religiösen Empfinden so weit entgegengekommen, dass sie die Ausführung der entsprechenden Strafbestimmung sogar gegen römische Bürger“ gestatteten (Schneider II, 346; vgl. Josephus, Der jüdische Krieg, VI, 124-128). Deshalb hätten sie Paulus ergriffen (vgl. 21,30). Abschließend gibt der Anwalt seiner Erwartung Ausdruck, dass der Statthalter die Wahrheit dieser Anklage erfahren wird, wenn er den Angeklagten nun ausführlich verhört.

 

(9) Die mitgereisten Juden, also „der Hohepriester Hananias mit einigen Ältesten“ (24,1), greifen Paulus ebenfalls an und bestätigen die Worte ihres Anwalts.

 

 

Anschließend bekommt Paulus die Möglichkeit, sich zu verteidigen.

 

(10) Paulus aber antwortete, nachdem ihm der Statthalter zu reden gewinkt hatte: Da ich weiß, dass du seit vielen Jahren Richter über diese Nation bist, so verteidige ich meine Sache getrost. (11) Du kannst ja erfahren, dass es nicht mehr als zwölf Tage sind, seit ich hinaufging, um in Jerusalem anzubeten. (12) Und sie haben mich weder im Tempel angetroffen, noch dass ich mit jemand in Unterredung war oder einen Auflauf der Volksmenge machte, weder in den Synagogen noch in der Stadt; (13) auch können sie dir das nicht beweisen, weswegen sie mich jetzt anklagen. (14) Aber dies bekenne ich dir, dass ich nach dem Weg, den sie eine Sekte nennen, so dem Gott meiner Väter diene, indem ich allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht, (15) und die Hoffnung zu Gott habe, die auch selbst diese hegen, dass eine Auferstehung der Gerechten wie der Ungerechten sein wird. (16) Darum übe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen. (17) Nach mehreren Jahren aber kam ich her, um Almosen für meine Nation und Opfer darzubringen. (18) Bei diesen fanden sie mich, gereinigt im Tempel, weder mit Auflauf noch mit Tumult; (19) es waren aber einige Juden aus Asien, die hier vor dir sein und Klage führen sollten, wenn sie etwas gegen mich hätten. (20) Oder lass diese selbst sagen, welches Unrecht sie gefunden haben, als ich vor dem Hohen Rat stand, (21) es sei denn wegen dieses einen Ausrufs, den ich tat, als ich unter ihnen stand: Wegen der Auferstehung der Toten werde ich heute vor euch gerichtet.

 

(10) Nach einem Zeichen des Statthalters hält Paulus seine Verteidigungsrede. Auch er beginnt mit einer „captatio benevolentiae“, die allerdings wesentlich kürzer und nüchterner ausfällt. Er weist lediglich darauf hin, dass Felix „seit vielen Jahren Richter über diese Nation“ ist und er daher zuversichtlich ist, sich gegen die Anklagepunkte verteidigen zu können.

 

(11-13) Zunächst verteidigt er sich gegen den Vorwurf der Anstiftung zum Aufruhr. Er weist darauf hin, dass er nur zwölf Tage in Jerusalem war – und man in so kurzer Zeit keine Revolution vom Zaun brechen könne. Während dieser Zeit habe er weder Streitgespräche geführt, noch einen Volksauflauf angezettelt – im Tempel nicht und auch in den Synagogen und in der Stadt nicht („Und sie fanden mich weder im Tempel, dass ich mich mit jemand gestritten oder einen Volksauflauf erregt hätte, noch in den Synagogen, noch in der Stadt.“; Schlachter 2000). Außerdem blieben die Ankläger jeden Beweis schuldig.

 

„Auf den Vorwurf weltweiter Agitation geht Paulus nicht ein, da dieser ohnehin nicht beweisbar ist.“ (Pesch II, 257). Er „setzt bei seiner Argumentation anscheinend voraus, dass die Rechtsprechung des Felix nur für Straftaten zuständig ist, die innerhalb seines Machtbereiches … begangen wurden und durch Zeugen bewiesen werden können.“ (Roloff, 337).

 

(14-16) Zum zweiten Anklagepunkt, einer der „Anführer der Sekte der Nazoräer zu sein, nimmt Paulus dadurch Stellung, dass er seine „Rechtgläubigkeit“ betont. Indem er „dem Weg, den sie eine Sekte nennen“ (zu „Weg“ als Bezeichnung des christlichen Glaubens vgl. 9,2; 19,9.23; 22,4), folgt, dient er dem Gott seiner Väter. Er glaubt alles, „was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht“. Außerdem hat er „die Hoffnung zu Gott“, die „auch selbst diese hegen“. Konkret: „… dass eine Auferstehung der Gerechten wie der Ungerechten sein wird“. Nun haben die Sadduzäer die Auferstehungshoffnung ausdrücklich abgelehnt. Wen also meint Paulus mit „diese“? Die „Väter“, die „Propheten“, die Juden im Allgemeinen? Das kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Was er sagen will, ist klar: Der „Weg“ ist keine „jüdische Sonderrichtung, sondern die wahre Erfüllung des Judentums …; denn er glaubt an alles, was im Gesetz und den Propheten geschrieben steht …“. Weil er „in diesem Glauben und insbesondere in dieser Hoffnung … lebt, müht er sich darum, vor Gott und den Menschen ein ungetrübtes Gewissen zu behalten … Das bedeutet, dass er sich weder im Blick auf den väterlichen Glauben noch im Blick auf die Gesetze der römischen Staatsmacht etwas zuschulden kommen ließ.“ (Pesch II, 258).

 

(17-19) Auch den Vorwurf der Tempelschändung weist Paulus zurück. Er sei nach längerer Abwesenheit nach Jerusalem gekommen, um Almosen zu bringen (hier ist vermutlich die sonst in der Apostelgeschichte nicht erwähnte Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden für die notleidende Gemeinde in Jerusalem gemeint, vgl. Gal.2,10; 1.Kor.16,1-4; 2.Kor.8 und 9) und zu opfern. Nach dem Reinigungsopfer (vgl. 21,24.26) war er im Tempel – aber „weder mit Auflauf noch mit Tumult“. Dort haben ihn „einige Juden aus Asien“ gesehen – und ihn beschuldigt, gegen „das Volk und das Gesetz und diese Stätte“ zu lehren und „Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte verunreinigt“ zu haben (21,27-28). Diese müssten aber, so Paulus weiter, selbst vor diesem Gericht erscheinen, wenn sie etwas gegen ihn haben.

 

(20-21)Abschließend erinnert er an die Szene vor dem Hohen Rat (22,30-23,10) – und daran, dass seine hier versammelten Gegner ihm dort nichts nachweisen konnten. Dort ging es letztlich um seine Bemerkung, dass er „wegen der Auferstehung der Toten“ angeklagt wird (23,7) – was aber kein Grund zur Anklage sein kann (vgl. den Kommentar von Lysias in 23,29).

 

 

Felix trifft aber keine Entscheidung, sondern vertagt.

 

(22) Felix aber, der von dem Weg genauere Kenntnis hatte, vertagte ihre Sache und sagte: Wenn Lysias, der Oberste, herabkommt, so will ich eure Sache entscheiden. (23) Und er befahl dem Hauptmann, ihn in Gewahrsam zu halten und ihm Erleichterung zu geben und niemandem von den Seinen zu wehren, ihm zu dienen.

 

(22) Lukas erklärt, dass Felix „von dem Weg“ – also dem christlichen Glauben (vgl. 24,14) – „genauere Kenntnisse hatte“. Er vertagt das Verfahren und begründet die Vertagung damit, dass er vor einer Entscheidung Lysias, den Obersten, hören will.

 

(23) Seinen Hauptmann befielt er, Paulus „in Gewahrsam zu halten“, ihm dabei aber „Erleichterung zu geben“ und „den Seinen“, vermutlich Christen aus Cäsarea und Judäa, zu erlauben, „ihm zu dienen“, d.h. ihn im Gefängnis zu versorgen.

 

„Dass Felix Paulus nicht freiließ, hängt mit seiner Rücksicht auf die jüdische Führung zusammen (24,27): deren starkes Interesse am Fall Paulus war ja offenkundig – und die Vertagung bot die Chance, sie jetzt nicht zu brüskieren.“ (Pesch II, 259)

 

 

Zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens kommt es während der Amtszeit des Statthalters Felix nicht mehr, aber zu einigen Begegnungen zwischen ihm und Paulus.


(24) Nach einigen Tagen aber kam Felix herbei mit Drusilla, seiner Frau, die eine Jüdin war, und ließ den Paulus holen und hörte ihn über den Glauben an Christus. (25) Als er aber über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und das kommende Gericht redete, wurde Felix mit Furcht erfüllt und antwortete: Für jetzt geh hin! Wenn ich aber gelegene Zeit habe, werde ich dich rufen lassen.

(26) Zugleich hoffte er, dass ihm von Paulus Geld gegeben werde; deshalb ließ er ihn auch öfter holen und unterhielt sich mit ihm. (27) Als aber zwei Jahre verflossen waren, bekam Felix den Porzius Festus zum Nachfolger; und da Felix sich bei den Juden in Gunst setzen wollte, hinterließ er den Paulus gefangen.

 

(24-25) Bereits wenige Tage später möchte Felix von Paulus mehr über den „Glauben an Christus“ erfahren. Zusammen mit Drusilla, seiner jüdischen Frau, begibt er sich ins Prätorium (23,35) und lässt Paulus holen.

 

Drusilla war eine Schwester von König Herodes Agrippa II. und Berenike. Über das Zustandekommen der Ehe von Felix und Drusilla berichtet der jüdische Geschichtsschreiber Josephus: „Nicht lange nachher aber wurde Drusillas Ehe mit Azizus aus folgender Veranlassung aufgelöst. Felix, der Landpfleger von Judäa, hatte Drusilla, die sich durch hohe Schönheit auszeichnete, kaum gesehen, als er auch schon in heftiger Liebe zu ihr entbrannte. Er schickte daher einen ihm befreundeten Juden mit Namen Simon, der aus Cypern stammte und sich für einen Magier ausgab, zu ihr und ließ ihr zureden, ihren Gatten zu verlassen und sich mit ihm (Felix) zu vermählen. Wenn sie ihn nicht verschmähe, ließ er ihr sagen, werde er sie glücklich machen. Drusilla beging auch wirklich das Unrecht, dass sie sich, um dem Neide ihrer Schwester Berenike, von der sie ihrer Schönheit wegen viel auszustehen hatte, zu entgehen, zur Übertretung ihres heimischen Gesetzes verleiten ließ und sich mit Felix vermählte.“ (Josephus, Jüdische Altertümer, 20, 141-143).

 

Als Paulus „über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und das kommende Gericht“ redet, wird „Felix mit Furcht erfüllt“. Das kann an den Themen selbst liegen, aber auch daran, dass diese Themen in einem engen Bezug zu seinen unmoralischen Lebenswandel stehen. Auch hier „vertagt“ Felix und erklärt, ihn bei Gelegenheit wieder rufen zu lassen.

 

(26-27) Tatsächlich lässt Felix ihn immer wieder holen und unterhält sich mit ihm. Der Grund dafür ist aber nicht ein Interesse am christlichen Glauben. Vielmehr hofft er darauf, von Paulus Bestechungsgeld für seine Freilassung zu erhalten.

 

Nachdem Paulus zwei Jahre als Gefangener in Cäsarea ist, wird Felix als Statthalter abgesetzt – vermutlich, weil sein Bruder bei Kaiser Nero in Ungnade gefallen ist und/oder weil die Juden sich über seine Amtsführung beklagt hatten. Sein Nachfolger wird Festus, ein zuverlässiger und korrekter Beamter. Weil Felix die Juden zum Abschied nicht noch weiter verärgern will, lässt er Paulus nicht frei, sondern hinterlässt ihn seinem Nachfolger.

 

 

9.7    Paulus in Cäsarea zur Zeit des Statthalters Festus (25,1-26,32)

 

Durch den Amtsantritt des neuen Statthalters kommt es zur Wiederaufnahme des Verfahrens.

 

(1) Als nun Festus in die Provinz gekommen war, ging er nach drei Tagen von Cäsarea hinauf nach Jerusalem. (2) Und die Hohenpriester und die Vornehmsten der Juden machten Anzeige bei ihm gegen Paulus und baten ihn, (3) indem sie es als eine Gunst für sich gegen ihn erbaten, dass er ihn nach Jerusalem kommen ließe; sie machten einen Anschlag, ihn unterwegs umzubringen. (4) Festus nun antwortete, Paulus werde in Cäsarea behalten, er selbst aber wolle in Kürze abreisen. (5) Die Angesehenen unter euch nun, sprach er, mögen mit hinabreisen und, wenn etwas Unrechtes an dem Mann ist, ihn anklagen! (6) Nachdem er aber nicht mehr als acht oder zehn Tage unter ihnen verweilt hatte, ging er nach Cäsarea hinab; und am folgenden Tag setzte er sich auf den Richterstuhl und befahl, Paulus vorzuführen. (7) Als er aber angekommen war, stellten sich die von Jerusalem herabgekommenen Juden um ihn her und brachten viele und schwere Beschuldigungen vor, die sie nicht beweisen konnten, (8) da Paulus sich verteidigte: Weder gegen das Gesetz der Juden, noch gegen den Tempel, noch gegen den Kaiser habe ich in irgendeiner Weise gesündigt. (9) Festus aber, der den Juden eine Gunst erweisen wollte, antwortete dem Paulus und sagte: Willst du nach Jerusalem hinaufgehen und dort dieser Dinge wegen vor mir gerichtet werden? (10) Paulus aber sprach: Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers, wo ich gerichtet werden muss; den Juden habe ich kein Unrecht getan, wie auch du sehr wohl weißt. (11) Wenn ich nun unrecht getan und etwas Todeswürdiges begangen habe, so weigere ich mich nicht zu sterben; wenn aber nichts an dem ist, wessen diese mich anklagen, so kann mich niemand ihnen preisgeben. Ich berufe mich auf den Kaiser. (12) Dann besprach sich Festus mit dem Rat und antwortete: Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollst du gehen.

 
(1-3) Drei Tage nachdem Festus in seinem neuen Zuständigkeitsbereich eingetroffen ist und seinen Amtssitz in Cäsarea bezogen hat, begibt er sich „hinauf nach Jerusalem“. Dort nimmt er mit den Hohepriestern und den „Vornehmsten der Juden“ – gemeint sind die „Ältesten“ (25,15) – Kontakt auf. Sofort erstatten sie „Anzeige bei ihm gegen Paulus“. Außerdem bitten sie Festus um eine „Gunst“. Quasi als Zeichen des guten Willens zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit soll er Paulus nach Jerusalem kommen lassen. Gemeint ist vermutlich, dass der Prozess gegen ihn dort stattfinden soll. Allerdings wollen sie in Wirklichkeit während des Gefangenentransports von Cäsarea und Jerusalem einen Anschlag auf Paulus verüben (lassen) und ihn umbringen (vgl. 23,12-15).

 

(4-7) Festus lehnt eine Verlegung des Gefangenen und des Prozesses nach Jerusalem ab und weist zur Begründung darauf hin, dass er „in Kürze abreisen“ will – und der Prozess, der er zu leiten hätte, daher nicht in Jerusalem stattfinden kann. Stattdessen lädt er die Führer dazu ein, ihn auf dem Rückweg nach Cäsarea zu begleiten und Paulus in Cäsarea anzuklagen, „wenn etwas Unrechtes“ an ihm ist. So geschieht es dann auch. Nach acht oder zehn Tagen reist Festus zurück nach Cäsarea und setzt sich gleich am nächsten Tag „auf den Richterstuhl“ und befiehlt, „Paulus vorzuführen“. „Die von Jerusalem herabgekommenen Juden“ stehen um Paulus herum und bringen „viele und schwere Beschuldigungen vor“, die sie jedoch nicht beweisen können.

 

(8) Im Rahmen seiner Verteidigungsrede stellt Paulus zunächst heraus, dass er nicht „gegen das Gesetz der Juden … gesündigt“ hat. In Jerusalem kursierte ja schon vor seiner Ankunft (auch) unter Judenchristen das Gerücht, er würde den „Abfall von Mose“ lehren (21,21). In seiner Verteidigungsrede vor Felix hatte Paulus demgegenüber betont, dass er „allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht“ (24,14).

 

Dann erklärt er, dass er auch nicht „gegen den Tempel … gesündigt“ hat. Hier geht es sicher wieder um den Vorwurf, er habe den Tempel entweiht, indem er einen Heiden in das Tempelinnere gebracht habe (21,28-29; 24,6). Erneut weist er diesen Vorwurf zurück (24,17-19).

 

Schließlich verwahrt er sich gegen die Anklage, „gegen den Kaiser … gesündigt“ zu haben. Davon war bisher nicht die Rede – es sei denn, es geht um den Vorwurf, dass Paulus „Aufruhr erregt“ habe – ein Vorwurf, den er ebenfalls bereits in seiner Rede vor Felix  zurückgewiesen hat (24,11-12).

 

(9) Obwohl, oder gerade weil, „die Angesehenen“ ihre Vorwürfe nicht beweisen können und daher im Begriff sind, den Prozess zu verlieren, will Festus ihnen einen Gefallen tun – vermutlich um es sich nicht gleich zu Beginn seiner Tätigkeit als Statthalter mit ihnen zu verscherzen. Er fragt Paulus: „Willst du nach Jerusalem hinaufgehen und dort dieser Dinge wegen vor mir gerichtet werden?“ „Der neue Verfahrensgang in Jerusalem soll, wie ausdrücklich gesagt wird, unter dem Vorsitz des Festus stehen. Aber Lukas meint nicht ein römisches Tribunal, bei dem die Juden lediglich als Ankläger bzw. Zeugen fungieren, sondern er denkt an ein Verfahren nach dem Muster der von ihm dargestellten Synedriumsszene 22,30-23,11: Unter dem Vorsitz des Römers sollen die Juden Paulus verhören und das Urteil über ihn sprechen (vgl. V. 20).“ (Roloff, 343)

 

(10-11) Paulus lehnt das ab und weist darauf hin, dass er „vor dem Richterstuhl des Kaisers“ steht. In der Tat: „Das Gericht des Statthalters ist nach römischem Recht das Gericht des Kaisers, dort steht Paulus als Angeklagter, dort muss sein Prozess geführt werden.“ (Pesch II, 266). Außerdem, so Paulus, könne er schon deshalb nicht der jüdischen Gerichtsbarkeit ausgeliefert werden, weil er – wie der Statthalter weiß – „den Juden … kein Unrecht getan“ hat. Dabei betont er, dass er das Recht anerkennt – und bereit ist zu sterben, wenn er „etwas Todeswürdiges begangen“ hat. Wenn er das aber nicht getan hat, dürfe „niemand“ ihn den Juden „preisgeben“.

 

Um zu verhindern, dass Festus ihn aus opportunistischen Gründen den Juden ausliefert, beruft Paulus sich „auf den Kaiser“. „Es handelt sich hier nicht um die appellatio, das Recht des Verurteilten, an einen Amtskollegen des verurteilenden Beamten oder einen Volkstribunen zu appellieren, sondern um die provocatio, das alte Recht, das römische Bürger vor Hinrichtungen und Folter ohne Prozess sowie vor Gerichtsurteilen von Magistraten außerhalb Italiens schützte.“ (Roloff, 344)

 

(12) Daraufhin berät sich Festus „mit dem Rat“, den Beisitzern. Vermutlich war bei einer Berufung auf den Kaiser die Zustimmung des Statthalters erforderlich. Sie wird erteilt: „Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollst du gehen.“

 

 

Bevor Paulus dann tatsächlich „zum Kaiser“ geht, diskutiert Festus diesen „Fall“ mit König Agrippa II., der den neuen Statthalter besucht.

 

(13) Als aber einige Tage vergangen waren, kamen der König Agrippa und Berenike nach Cäsarea, den Festus zu begrüßen. (14) Als sie aber mehrere Tage dort verweilt hatten, legte Festus dem König die Sache des Paulus vor und sprach: Ein Mann ist von Felix gefangen zurückgelassen worden, (15) dessentwegen, als ich zu Jerusalem war, die Hohenpriester und die Ältesten der Juden Anzeige machten, indem sie ein Urteil gegen ihn verlangten. (16) Diesen antwortete ich: Es ist bei den Römern nicht Sitte, irgendeinen Menschen preiszugeben, ehe der Angeklagte seine Ankläger persönlich vor sich habe und Gelegenheit bekommt, sich wegen der Anklage zu verteidigen. (17) Als sie nun hierher zusammengekommen waren, setzte ich mich, ohne irgendeinen Aufschub, tags darauf auf den Richterstuhl und befahl, den Mann vorzuführen. (18) Als die Ankläger auftraten, brachten sie gegen ihn keine Beschuldigung wegen Übeltaten vor, die ich vermutete. (19) Sie hatten aber einige Streitfragen gegen ihn wegen ihres eigenen Gottesdienstes und wegen eines gewissen Jesus, der gestorben ist, von dem Paulus sagte, er lebe. (20) Da ich aber hinsichtlich der Untersuchung wegen dieser Dinge in Verlegenheit war, sagte ich, ob er nach Jerusalem gehen und dort wegen dieser Dinge gerichtet werden wolle. (21) Als aber Paulus Berufung einlegte und forderte, dass er für die Entscheidung des Augustus in Gewahrsam gehalten werde, befahl ich, ihn in Gewahrsam zu halten, bis ich ihn zum Kaiser senden werde. (22) Agrippa aber sprach zu Festus: Ich möchte wohl auch selbst den Menschen hören! – Morgen, sagte er, sollst du ihn hören.

 

(13) Nur kurze Zeit später kommt König Agrippa II. mit seiner Schwester Berenike zum Antrittsbesuch nach Cäsarea. Agrippa II. herrscht nur über einige kleinere Randgebiete Palästinas, hat aber auch die Aufsicht über den Jerusalemer Tempel und das Recht, den Hohepriester einzusetzen. Seine Schwester ist verwitwet. Es gibt Gerüchte über ein inzestuöses Verhältnis zwischen Agrippa II und seiner Schwester. Später geht sie andere Beziehungen ein; zuletzt wird sie Mätresse von Kaiser Titus.

 

(14-21) Nach einigen Tagen legt Festus König Agrippa den Fall des Paulus vor, den er von seinem Vorgänger geerbt hat. Festus berichtet ihm, was er im Zusammenhang mit diesem Fall erlebt hat. Die Erzählung entspricht weitgehend den vorgegangenen Berichten; an einigen Stellen aber finden sich besondere Akzentuierungen.

 

So spricht Festus nun davon, dass die Hohenpriester und die Ältesten … ein Urteil“ gegen Paulus verlangten (vgl. 25,2, wo „nur“ von der Anzeige die Rede ist). Dementsprechend folgt hier auch ein Hinweis auf die „Sitte“ der Römer, ein rechtsstaatliches Verfahren durchzuführen – und ein Urteil erst nach der Verhandlung zu fällen, in dessen Rahmen der Angeklagte die „Gelegenheit bekommt, sich wegen der Anklage zu verteidigen“.

 

Sein Bericht über die Verhandlung entspricht 25,6. Allerdings erklärt Festus nun, dass es damals lediglich um „einige Streitfragen gegen ihn wegen ihres eigenen Gottesdienstes und wegen eines gewissen Jesus, der gestorben ist, von dem Paulus sagte, er lebe“ gegangen sei (anders 25,8: „… Weder gegen das Gesetz der Juden, noch gegen den Tempel, noch gegen den Kaiser habe ich in irgendeiner Weise gesündigt.“).

 

Festus erwähnt auch, dass die Frage diskutiert wurde, „ob er nach Jerusalem gehen und dort wegen dieser Dinge gerichtet werden wolle“, nennt aber als Grund für diesen Vorschlag seine „Verlegenheit“, also seine Unkenntnis jüdischer Religion und Bräuche, und sagt nichts darüber, dass er den Juden eine „Gunst erweisen wollte“ (25,9).

 

Hinsichtlich des Ergebnisses gibt es aber keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Schilderungen. Auch hier ist davon die Rede, dass Paulus gegen diesen „Vorschlag“ ist, sich auf den Kaiser berufen hat und daher zum Kaiser gehen soll und sich bis dahin „in Gewahrsam befindet“.

 

(22) Agrippa erklärt Festus, dass er Paulus selbst hören möchte – vermutlich um sich so ein eigenes Urteil bilden zu können. Es darf vermutet werden, dass dies ganz im Sinne von Festus ist und er sich aufgrund seiner eigenen „Verlegenheit“ (25,20) von ihm eine Art „Sachverständigenurteil“ erhofft. Daher verspricht Festus ihm, dass er Paulus am nächsten Tag zu hören bekommen wird.

 

 

So geschieht es dann auch. Bevor Paulus selbst ausführlich zu Wort kommt, stellt Festus ihn den Anwesenden vor:

 

(23) Als nun am folgenden Tag Agrippa und Berenike mit großem Gepränge gekommen und mit dem Obersten und den vornehmsten Männern der Stadt in den Verhörsaal eingetreten waren und Festus Befehl gegeben hatte, wurde Paulus vorgeführt. (24) Und Festus spricht: König Agrippa und ihr Männer alle, die ihr mit uns zugegen seid, ihr seht diesen, um dessentwillen mich die ganze Menge der Juden angegangen hat, in Jerusalem wie auch hier, indem sie gegen ihn schrien, er dürfe nicht mehr leben. (25) Ich aber, da ich fand, dass er nichts Todeswürdiges begangen, dieser selbst aber sich auch auf den Augustus berufen hat, habe beschlossen, ihn zu senden. (26) Über ihn habe ich dem Herrn nichts Gewisses zu schreiben. Deshalb habe ich ihn vor euch geführt und besonders vor dich, König Agrippa, damit ich, wenn die Untersuchung geschehen ist, etwas zu schreiben habe. (27) Denn es scheint mir ungereimt, einen Gefangenen zu senden und nicht auch die gegen ihn vorliegenden Beschuldigungen mitzuteilen.


(23-25)
Am folgenden Tag ziehen Agrippa und Berenike in ihrer ganzen königlichen Pracht in den Gerichtssaal ein. Außerdem sind hohe Militärs und Prominente aus Cäsarea zugegeben. Paulus wird „vorgeführt“ und den Versammelten von Festus vorgestellt.

 

Auch hier nennt Festus zusätzliche Details. Er stellt Paulus als den Mann vor, um dessentwillen ihn in Jerusalem und Cäsarea „die ganze Menge der Juden angegangen hat“ (also nicht nur die Hohepriester und Ältesten, vgl. 25,3.7). Außerdem war bisher noch nicht davon die Rede, dass sie „gegen ihn schrien, er dürfe nicht mehr leben“. Das Ergebnis entspricht auch dem vorher Berichteten: dass Paulus seiner Meinung nach „nichts Todeswürdiges“ getan hat (25,19), er sich aber auf den Kaiser berufen habe (25,11.21) und er beschlossen habe, „ihn zu senden“ (25,12.21).

 

(26-27) Dann erklärt Festus ganz offen, was er sich von dieser Veranstaltung erhofft: dass er Informationen gewinnt, die er in seinen Bericht an den Kaiser aufnehmen kann. Bisher habe er nämlich „dem Herrn [gr.: kyrios, seit Klaudius vermehrt ein Titel des Kaisers] nichts Gewisses zu schreiben“. Und er könne dem Kaiser doch nicht „einen Gefangenen senden“ ohne ihm „die gegen ihn vorliegenden Beschuldigungen mitzuteilen“.

 

 

Dann übergibt Festus König Agrippa die Gesprächsleitung, der Paulus das Wort übergibt.

 

(1) Agrippa aber sprach zu Paulus: Es ist dir erlaubt, für dich selbst zu reden. Da streckte Paulus die Hand aus und verteidigte sich: (2) Ich schätze mich glücklich, König Agrippa, dass ich mich über alles, dessen ich von den Juden angeklagt werde, heute vor dir verteidigen soll; (3) besonders weil du ein hervorragender Kenner bist von allen Gebräuchen und Streitfragen, die unter den Juden sind. Darum bitte ich dich, mich langmütig anzuhören.

 

(1-3) Agrippa erteilt Paulus die Erlaubnis, seine Sache vorzutragen. Mit einer Geste, die auf den Beginn einer Rede hinweist (13,16; 19,33; 21,40) beginnt Paulus eine weitere Verteidigungsrede (22,1; 24,10; 25,8.16). Erneut setzt auch er mit einer „captatio benevolentiae“ („Erheischen des Wohlwollens“, 24,2f.10) ein. Darin betont er, wie froh er ist, sich heute vor Agrippa zur Anklage der Juden äußern darf, weil dieser „ein hervorragender Kenner … von allen Gebräuchen und Streitfragen“ ist, „die unter den Juden sind“ und bittet um seine geduldige Aufmerksamkeit.

 

 

Im ersten Hauptteil betont Paulus seine Verbindung zum Judentum.

 

(4) Meinen Lebenswandel nun von Jugend auf, der von Anfang an unter meiner Nation in Jerusalem gewesen ist, wissen alle Juden. (5) Sie kennen mich von der ersten Zeit her – wenn sie es bezeugen wollen – dass ich nach der strengsten Sekte unserer Religion, als Pharisäer, lebte. (6) Und nun stehe ich vor Gericht wegen der Hoffnung auf die von Gott an unsere Väter geschehene Verheißung,  (7) zu der unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft. Wegen dieser Hoffnung, o König, werde ich von den Juden angeklagt. (8) Warum wird es bei euch für etwas Unglaubliches gehalten, wenn Gott Tote auferweckt?

 

(4-5) „Alle Juden“ wissen, dass er als Jude aufgewachsen ist und „nach der strengsten Sekte“ des Judentums „als Pharisäer“ gelebt hat (vgl. 22,3).

 

(6-8) Nun aber steht er (überraschenderweise) „wegen der Hoffnung auf die von Gott an unsere Väter geschehene Verheißung“ „vor Gericht“. Es geht um das Ziel des Glaubens, zu dem das jüdische Volk „unablässig Nacht und Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft“. Gemeint ist natürlich die Auferstehung (23,6: „Da aber Paulus wusste, dass der eine Teil von den Sadduzäern, der andere aber von den Pharisäern war, rief er in dem Hohen Rat: Ihr Brüder, ich bin ein Pharisäer, ein Sohn von Pharisäern; wegen der Hoffnung und Auferstehung der Toten werde ich gerichtet.“; 24,15: „… und die Hoffnung zu Gott habe, die auch selbst diese hegen, dass eine Auferstehung der Gerechten wie der Ungerechten sein wird.“).

 

Darauf aufbauend fragt Paulus: Wenn Juden doch selbst an die Auferstehung glauben, warum wird es von ihnen „für etwas Unglaubliches gehalten, wenn Gott Tote auferweckt?“ Er meint natürlich die Auferstehung Jesu. „Die Juden dürfen sie nicht als unglaubhaft beurteilen, da sie ja selbst an die (allgemeine) Totenauferstehung glauben.“ (Haenchen, 609).

 

 

Im zweiten Hauptteil erklärt Paulus, dass ursprünglich auch er selbst den Glauben an Jesus bekämpft hat, dass dieser ihm aber vor Damaskus begegnet und von ihm zum Völkerapostel berufen worden ist.

 

(9) Ich meinte freilich bei mir selbst, gegen den Namen Jesu, des Nazoräers, viel Feindseliges tun zu müssen, (10) was ich auch in Jerusalem getan habe; und auch viele der Heiligen habe ich in Gefängnisse eingeschlossen, nachdem ich von den Hohenpriestern die Vollmacht empfangen hatte; und wenn sie umgebracht wurden, so gab ich meine Stimme dazu. (11) Und in allen Synagogen zwang ich sie oftmals durch Strafen, zu lästern; und indem ich über die Maßen gegen sie wütete, verfolgte ich sie sogar bis in die ausländischen Städte.

(12) Und als ich dabei mit Vollmacht und Erlaubnis von den Hohenpriestern nach Damaskus reiste, (13) sah ich mitten am Tag auf dem Weg, o König, vom Himmel her ein Licht, das den Glanz der Sonne übertraf, welches mich und die, die mit mir reisten, umstrahlte. (14) Als wir aber alle zur Erde niedergefallen waren, hörte ich eine Stimme in hebräischer Mundart zu mir sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es ist hart für dich, gegen den Stachel auszuschlagen. (15) Ich aber sprach: Wer bist du, Herr? Der Herr aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. (16) Aber richte dich auf und stelle dich auf deine Füße! Denn hierzu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen dessen zu verordnen, was du gesehen hast, wie auch dessen, worin ich dir erscheinen werde. (17) Ich werde dich herausnehmen aus dem Volk und den Nationen, zu denen ich dich sende, (18) ihre Augen zu öffnen, dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Macht des Satans zu Gott, damit sie Vergebung der Sünden empfangen und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an mich geheiligt sind.

 

(9-11) Paulus erinnert daran, dass er früher selbst davon überzeugt war, „gegen den Namen Jesu, des Nazoräers, viel Feindseliges tun zu müssen“ – und dieser Überzeugung gemäß die Christen verfolgt hat. Zunächst hat er das, mit Erlaubnis der Hohenpriester, in Jerusalem getan. Er hat Christen gefangen genommen (8,3) und Todesurteilen gegen sie zugestimmt (8,1), hat sie unter Strafandrohung gezwungen, ihren Glauben  „zu lästern“ und hat sie „bis in die ausländischen Städte“ verfolgt.

 

(12-15) Als er „mit Vollmacht und Erlaubnis von den Hohenpriesternauf dem Weg nach Damaskus war, um auch dort gegen die Christen vorzugehen, sah er „mitten am Tag auf dem Weg … vom Himmel her ein Licht, das den Glanz der Sonne übertraf, welches mich und die, die mit mir reisten, umstrahlte“ (vgl. 9,1-3; 22,6).

 

Paulus berichtet, dass er und seine Begleiter „zur Erde niedergefallen“ sind (9,4 und 22,7 sprechen nur davon, dass Paulus zu Boden fiel) und er dann eine Stimme hörte (vgl. 22,7; laut 9,7 hörten auch seine Begleiter die Stimme): „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Nach diesem Bericht hat die Stimme noch etwas hinzugefügt: „Es ist hart für dich, gegen den Stachel auszuschlagen.“ Es handelt sich „um ein seit Euripides (…) geläufiges Sprichwort …, das zum Ausdruck bringt, dass Paulus sich der Macht Gottes und seines Messias so wenig widersetzen kann wie ein Zugtier dem Stachelstock seines Treibers.“ (Pesch II, 277).

 

Wie in den anderen Berichten über das „Damaskuserlebnis“ fragt Paulus: „Wer bist du, Herr?“. Die Antwort lautet: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ (vgl. 9,5; 22,8).

 

(16-18) Auch der Befehl aufzustehen, findet sich in den anderen Berichten (9,6; 22,10). Er bezieht sich hier aber nicht darauf, dass Paulus sich nach Damaskus begeben soll, sondern auf seine Berufung. Der Zusatz „stelle dich auf deine Füße“ erinnert an die Berufung Hesekiels zum Propheten (Hes.2,1: „Und er sprach zu mir: Menschensohn, stelle dich auf deine Füße, und ich will mit dir reden!“).

 

Dementsprechend erklärt Jesus ihm nach diesem Bericht sofort, warum er ihm erscheinen ist: um ihn „zu einem Diener und Zeugen dessen zu verordnen“, was er hier gesehen hat (22,15, dort als Wort des Hananias an Paulus) und künftiger Erscheinungen (16,9-10; 18,9; 22,17; 23,11; 27,23). Das wird anschließend dahingehend konkretisiert, dass Jesus ihn zu den Heiden sendet. Er will ihn „herausnehmen aus dem Volk und den Nationen“ und zu den Nationen senden, um ihnen die „Augen zu öffnen“ (vgl. Jes.42,7), so dass „sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht“ (vgl. 1.Pt.2,9; Kol.1,12-14) bzw. „von der Macht des Satans zu Gott“, damit sie im Hinblick auf ihre Vergangenheit „Vergebung der Sünden empfangen“ und zukünftig „ein Erbe unter denen, die durch den Glauben … geheiligt sind“ erhalten.

 

 

Im dritten und letzten Hauptteil seiner Rede weist Paulus darauf hin, dass er dieser „himmlischen Erscheinung“ gehorsam war.

 

(19) Daher, König Agrippa, war ich nicht ungehorsam der himmlischen Erscheinung, (20) sondern verkündigte denen in Damaskus zuerst und in Jerusalem und in der ganzen Landschaft von Judäa und den Nationen, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren, indem sie der Buße würdige Werke vollbrächten. (21) Deshalb haben mich die Juden im Tempel ergriffen und versucht, mich zu ermorden. (22) Da ich nun Beistand von Gott erlangte, stehe ich bis zu diesem Tag und bezeuge Klein und Groß – indem ich nichts sage außer dem, was auch die Propheten und Mose geredet haben, dass es geschehen werde – (23) dass der Christus leiden sollte, dass er als Erster durch Totenauferstehung Licht verkündigen sollte, sowohl dem Volk als auch den Nationen.


(19-20) Mit besonderem Blick auf König Agrippa, der diese Versammlung „moderiert“, betont Paulus, dass er „schlicht und ergreifend“ getan hat, was diese himmlische Erscheinung ihm aufgetragen hat. Dementsprechend habe er den Aufruf zur Umkehr (vgl. Lk.3,8) „in Damaskus“ (vgl. 9,19-20), „in Jerusalem und in der ganzen Landschaft von Judäa“ (vgl. 9,28-29) und „den Nationen“ verkündigt (11,25-26, 13,1ff.).

 

(21-23) Das er getan hat, was ihm aufgetragen wurde, war aber der Grund, weshalb er von den Juden „im Tempel ergriffen wurde“ (21,27-31) und sie versucht haben, ihn „zu ermorden“ (23,12-22; 25,3). Aber Gott ist ihm beigestanden, so dass er „bis zu diesem Tag … Klein und Groß“ – mit den „Großen“ sind vermutlich die Mächtigen gemeint, vor denen Paulus auch jetzt steht – das Evangelium bezeugt. Dabei sagt er nichts „außer dem, was auch die Propheten und Mose geredet haben, dass es geschehen werde“: Sie haben gesagt, „dass der Christus leiden sollte“ (vgl. 3,18; 17,3) und dass Christus „als Erster“ durch seine Auferstehung von den Toten „Licht verkündigen sollte“ – und zwar nicht nur „dem Volk“, also den Juden, sondern „auch den Nationen“ (Es wird nicht gesagt, an welche Aussagen von Mose und den Propheten dabei gedacht ist. Möglich wäre z.B. Jes.52,13-53,12). Genau das ist auch seine Botschaft als Zeugen Jesu Christi – womit Paulus noch mal andeutet, wie verwunderlich es ist, dass er deshalb von den Juden angeklagt wird.

 

 

An dieser Stelle, nachdem er die entscheidenden Aussagen gemacht hat, wird Paulus unterbrochen. Es kommt zu einem Dialog mit den Anwesenden, bei dem es darum geht, dass sie dieser Botschaft Glauben schenken.

 

(24) Während er aber dies zur Verteidigung sagte, spricht Festus mit lauter Stimme: Du bist von Sinnen, Paulus! Die große Gelehrsamkeit bringt dich zum Wahnsinn. (25) Paulus aber spricht: Ich bin nicht von Sinnen, hochedler Festus, sondern ich rede Worte der Wahrheit und der Besonnenheit. (26) Denn der König weiß um diese Dinge, zu dem ich auch mit Freimütigkeit rede; denn ich bin überzeugt, dass ihm nichts hiervon verborgen ist, denn nicht in einem Winkel ist dies geschehen. (27) Glaubst du, König Agrippa, den Propheten? Ich weiß, dass du glaubst. (28) Agrippa aber sprach zu Paulus: In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden. (29) Paulus aber sprach: Ich möchte zu Gott beten, dass über kurz oder lang nicht allein du, sondern auch alle, die mich heute hören, solche werden, wie auch ich bin, ausgenommen diese Fesseln.

 

(24-26) Für Festus ist das zu viel. Er unterbricht Paulus und ruft ihm mit lauter Stimme zu, wohl durch „seine große Gelehrsamkeit“ (gemeint ist, wie die Einheitsübersetzung zu Recht übersetzt: „… das viele Studieren in den (heiligen) Schriften …“) verrückt geworden zu sein. Paulus weist das zurück und betont, dass seine Worte wahr und besonnen sind – also nicht erfunden und überdreht. Zur Begründung erklärt er, dass „der König“ Agrippa „um diese Dinge“ weiß – also um die mit Jesus verbundenen Ereignisse. Zu ihm redet er ganz offen, weil er überzeugt ist, „dass ihm nichts hiervon verborgen ist, denn nicht in einem Winkel ist dies geschehen, sondern in aller Öffentlichkeit.

 

(27-29) Daraufhin wendet Paulus sich direkt an König Agrippa und fragt ihn, ob er dem glaubt, was die Propheten angekündigt haben (vgl. 26,22f.). Dabei fügt er sofort hinzu: „Ich weiß, dass du glaubst.“ „Paulus unterstellt, dass Agrippa den Propheten glaubt – und deshalb auch Paulus glauben könnte …“ (Pesch II, 279).

 

Der Angesprochene „weicht mit einer ironisch-unverbindlichen Antwort aus.“ (Pesch II, 279): „In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden.“ „In einer elegant zwischen Ernst und Ironie balancierenden Wendung erkennt er die Überzeugungskraft der paulinischen Rede an, um sich für seine Person zugleich ihrem Anspruch zu entziehen.“ (Roloff, 355).

 

„Die Replik des Paulus ist keineswegs von geringerer rhetorischer Eleganz. Sie greift das Wort des Königs auf und macht aus dessen ironisch formulierten Wunsch einen real erfüllbaren.“ (Roloff, 355) Paulus erklärt, er bete zu Gott, dass „über kurz oder lang“ nicht nur der König, sondern alle hier Anwesenden – von seinen Fesseln mal abgesehen – so wie Paulus werden, also an Jesus Christus glauben (vgl. Gal.4,12: „Seid wie ich! Denn auch ich bin wie ihr, Brüder …“).

 

 

An dieser Stelle endet die Anhörung. In Abwesenheit des Paulus ziehen die Anwesenden ein Fazit.

 

(30) Und der König stand auf und der Statthalter und Berenike und die mit ihnen dasaßen. (31) Und als sie sich zurückgezogen hatten, redeten sie miteinander und sagten: Dieser Mensch tut nichts, was des Todes oder der Fesseln wert wäre. (32) Agrippa aber sprach zu Festus: Dieser Mensch hätte losgelassen werden können, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte.


(30-32)
Nachdem „sie sich zurückgezogen“ haben, reden sie weiter über diesen besonderen Fall. Sie müssen feststellen, dass Paulus nichts tut (Präsens!), „was des Todes oder der Fesseln wert wäre“. Agrippa, der von Festus als „Sachverständiger“ herangezogen worden war (25,26-27), stellt daher zusammenfassend fest: „Dieser Mensch hätte losgelassen werden können, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte.“ Das ist so etwas wie ein Freispruch. Nur ein „technisches oder formales Hindernis“ (Haenchen, 616) macht seine Freilassung unmöglich: dass er sich auf den Kaiser berufen hat.

 

 

„Warum … diese immer erneute Apologie des Paulus? Lukas hatte ihn … als die eigentlich treibende Kraft der christlichen Mission dargestellt. Da war es fatal, dass er verhaftet, gefangengehalten, nach Rom gebracht und schließlich hingerichtet wurde. Insofern war es unbedingt nötig, dass seine Unschuld überzeugend an den Tag kam. Aber es galt nicht nur, diese Vergangenheit zu bewältigen. Man musste auch an die Zukunft denken. Anders als ein großer Zeitgenosse, der Seher der Apokalypse, erblickte er in Rom nicht die große Dirne, die Gott bald im Weltgericht vernichten wird. Das Ende steht nicht vor der Tür; vorher wartet auf die Christen noch eine gewaltige Missionsaufgabe. Darum sieht Lukas seine Aufgabe nicht darin, die Gemeinde für das Martyrium unmittelbar vor dem Ende zu rüsten, sondern ihr eine Lebensmöglichkeit innerhalb des römischen Imperiums zu erwirken. Gerade bei dieser Aufgabe aber konnte Paulus den Christen helfen. Wie hatte er, der römische Bürger, es verstanden, mit den Römern auszukommen – auch in Konfliktsituationen! – und Achtung und Vertrauen zu gewinnen. Warum sollte Rom den christlichen ‚Weg’ nicht tolerieren? Weil die Juden die Christen anklagten? Dem ließ sich mit dem Nachweis begegnen, dass gerade die strengste Richtung im Judentum, der Pharisäismus, sich im Glauben an die Auferstehung mit dem Christentum traf.“ (Haenchen, 619f.) 

 

 

9.8    Die Reise des Paulus nach Rom (27,1-28,16)

 

Auch wenn – abgesehen von den Hohepriestern und Ältesten – alle ihn für unschuldig halten: Weil Paulus sich auf den Kaiser berufen hat, muss er zum Kaiser gehen (25,12).

 

Die Reise dorthin gestaltet sich von Anfang an sehr schwierig.

 

(1) Als es aber beschlossen war, dass wir nach Italien absegeln sollten, überlieferten sie sowohl Paulus als auch einige andere Gefangene einem Hauptmann mit Namen Julius von der Schar des Augustus. (2) Nachdem wir aber in ein adramyttisches Schiff gestiegen waren, das im Begriff stand, die Orte längs der Küste Asiens zu befahren, fuhren wir ab; und es war bei uns Aristarch, ein Mazedonier aus Thessalonich. (3) Und am anderen Tag legten wir in Sidon an. Und Julius behandelte den Paulus sehr wohlwollend und erlaubte ihm, zu den Freunden zu gehen, damit er ihrer Fürsorge teilhaftig wurde. (4) Und von da fuhren wir ab und segelten unter Zypern hin, weil die Winde widrig waren. (5) Und als wir das Meer von Zilizien und Pamphylien durchsegelt hatten, kamen wir nach Myra in Lyzien; (6) und als der Hauptmann dort ein alexandrinisches Schiff fand, das nach Italien segelte, brachte er uns auf dasselbe. (7) Als wir aber viele Tage langsam segelten und mit Mühe in die Nähe von Knidos gekommen waren, segelten wir, da uns der Wind nicht heranließ, unter Kreta hin, gegen Salmone; (8) und als wir mit Mühe daran entlangfuhren, kamen wir an einen Ort, Guthafen genannt, in dessen Nähe die Stadt Lasäa war.


(1-2) Bei dem Reisebericht handelt es sich wieder um einen „Wir-Bericht“. Paulus und „einige andere Gefangene“ werden von einem „Hauptmann“ mit Namen Julius und seinen Soldaten (27,42) eskortiert, die „von der Schar des Augustus“ sind – einer Kohorte mit dem Ehrentitel „Augustus“. In Cäsarea besteigen sie ein Schiff aus Adramyttium, einer Stadt im Nordwesten der Ägäis (südlich von Troas). Es ist „im Begriff …, die Orte längs der Küste Asiens zu befahren“. Das ist insofern günstig, als man in den Häfen dieser Orte häufig Schiffe findet, die nach Rom unterwegs sind. Mit dabei ist interessanterweise auch Aristarch, ein Mazedonier aus Thessalonich – ein Mitarbeiter und Mitgefangener des Paulus (19,29; 20,4; Philem.24; Kol.4,10).

 

(3-5) Die erste Tagesreise führt nach Sidon. Während das Schiff die Ladung löscht oder neue Ladung aufnimmt, erhält Paulus vom Hauptmann die Erlaubnis, die in Sidon lebenden Christen zu besuchen und sich von ihnen versorgen zu lassen. Aufgrund schwieriger Windverhältnisse segeln sie von Sidon aus östlich an Zypern vorbei und am Festland Kleinasiens entlang bis nach Myra in Lyzien, das im Südwesten der heutigen Türkei liegt und damals eine beliebte Zwischenstation für Getreideschiffe ist, die zwischen Alexandria und Rom verkehren.

 

(6-8) Als der Hauptmann ein „alexandrinisches Schiff“ findet, das nach Italien segelt, bringt er die „Reisegruppe“ auf das Schiff. Wieder erschwert der Wind die Weiterreise. Vermutlich kommt er ihnen aus westlicher Richtung entgegen. Eigentlich wollen sie in Knidos, einer Halbinsel im äußersten Südwesten der heutigen Türkei, Zwischenstation machen. Aber der Wind lässt es nicht zu, den Hafen anzulaufen. Deshalb segeln sie direkt nach Kreta weiter und kommen, nachdem sie Salmone, an der Nordostspitze Kretas passiert haben, unter großen Mühen „an einen Ort, Guthafen genannt“ in der Nähe von Lasäa an der Südküste Kretas.

 

 

Paulus warnt vor der Weiterfahrt – wird aber ignoriert.

 

(9) Da aber viel Zeit verflossen und die Fahrt schon unsicher war, weil auch das Fasten schon vorüber war, mahnte Paulus (10) und sprach zu ihnen: Männer, ich sehe, dass die Fahrt mit Unheil und großem Schaden, nicht nur der Ladung und des Schiffes, sondern auch unseres Lebens, vor sich gehen wird. (11) Der Hauptmann aber glaubte dem Steuermann und dem Schiffsherrn mehr als dem, was Paulus sagte. (12) Da aber der Hafen zum Überwintern ungeeignet war, rieten die meisten dazu, von dort abzufahren, ob sie etwa nach Phönix gelangen und dort überwintern könnten, einem Hafen von Kreta, der gegen Südwesten und gegen Nordwesten sieht.


(9-10) Aufgrund der widrigen Wetterbedingungen sind sie langsamer als geplant vorangekommen. Ab Mitte September riskiert man nach Möglichkeit keine Schiffsreise; von Anfang November bis Anfang März ist die Schifffahrt komplett eingestellt. Nun war „das Fasten schon vorüber“, also der große Versöhnungstag (3.Mos.16,29). Es ist also bereits Oktober geworden. Paulus teilt den Verantwortlichen mit, dass er großes Unheil für die Ladung, Schiff, Besatzung und Passagiere kommen sieht (hatte er eine Erscheinung wie in 27,23-24?).

 

(11-12) Der Steuermann und der Schiffsherr sind aber anderer Meinung – und der Hauptmann glaubt ihnen mehr als Paulus. Jedenfalls wollen sie nicht in „Guthafen“ überwintern, sondern in Phönix, dessen Hafen von zwei Seiten her angelaufen werden kann und den man deshalb auch bei schwiegen Windverhältnissen verhältnismäßig leicht erreichen kann.

 

 

Trotz der Warnung des Paulus wird die Reise fortgesetzt und führt in den Untergang.

 

(13) Als aber ein Südwind sanft wehte, meinten sie, ihre Absicht erreicht zu haben, lichteten die Anker und fuhren näher an Kreta hin. (14) Aber nicht lange danach erhob sich von dorther ein Sturmwind, Eurakylon genannt. (15) Als aber das Schiff mit fortgerissen wurde und dem Wind nicht widerstehen konnte, gaben wir es preis und ließen uns treiben. (16) Als wir aber unter einer kleinen Insel, Kauda genannt, hinliefen, konnten wir kaum des Rettungsbootes mächtig werden. (17) Dieses zogen sie herauf und wandten Hilfsmittel an, indem sie das Schiff umgürteten; und da sie fürchteten, in die Syrte verschlagen zu werden, ließen sie das Takelwerk nieder und trieben so dahin. (18) Da wir aber sehr unter dem Sturm litten, warfen sie am folgenden Tag Ladung über Bord; (19) und am dritten Tag warfen sie mit eigenen Händen das Schiffsgerät fort. (20) Da aber viele Tage lang weder Sonne noch Sterne schienen und ein nicht geringes Unwetter uns bedrängte, schwand zuletzt alle Hoffnung auf unsere Rettung.

 

(13-15) Als ein sanfter Südwind aufkommt, meinen die Verantwortlichen, einen günstigen Augenblick erwischt zu haben. Sie lichten die Anker und segeln an der Südküste Kretas entlang Richtung Phönix. Schon bald aber kommt vom Land her ein regelmäßig auftretender Sturmwind mit Namen Eurakylonauf. Das Schiff kann „dem Wind nicht widerstehen“. Deshalb lassen sie sich schließlich auf die offene See hinaustreiben.

 

(16-17) Als sie an Kauda, einer Insel südwestlich von Kreta, vorbeikommen, können sie – vielleicht weil die See im Windschatten der Insel zumindest etwas ruhiger ist – wenigstens das Beiboot einholen, das im Sturm verloren gehen oder gegen das Schiff schlagen und es beschädigen kann. Unklar ist, ob Vers 17 davon spricht, dass sie das Beiboot vertauen oder davon, dass sie das Schiff selbst durch Tauwerk gegen sein Auseinanderbrechen zu sichern versuchen.

 

(18-20) Am nächsten Tag müssten sie aufgrund des Sturms „Ladung“ über Bord werfen (aber noch nicht das geladene Getreide, vgl. 27,38), am übernächsten Tag auch das „Schiffsgerät“ (Ersatzteile, Takelwerk etc.). „Viele Tage lang“ scheinen „weder Sonne noch Sterne“, so dass eine Positionsbestimmung nicht möglich ist. Schiffsbesatzung und Passagiere geben die Hoffnung auf.

 

 

Daraufhin wendet Paulus sich in einer Rede an die Schiffsinsassen.

 

(21) Und als man lange Zeit ohne Speise geblieben war, da stand Paulus in ihrer Mitte auf und sprach: O Männer! Man hätte mir freilich gehorchen und nicht von Kreta abfahren und dieses Unglück und den Schaden vermeiden sollen. (22) Und jetzt ermahne ich euch, guten Mutes zu sein, denn keiner von euch wird verloren gehen, nur das Schiff. (23) Denn ein Engel des Gottes, dem ich gehöre und dem ich diene, stand in dieser Nacht bei mir (24) und sprach: Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor den Kaiser gestellt werden; und siehe, Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir fahren. (25) Deshalb seid guten Mutes, ihr Männer! Denn ich vertraue Gott, dass es so sein wird, wie zu mir geredet worden ist. (26) Wir müssen aber auf irgendeine Insel verschlagen werden.

 

(21) Nachdem alle Schiffsinsassen „lange Zeit“ nichts gegessen haben – vermutlich sind inzwischen alle seekrank –, steht Paulus auf und hält eine kurze Ansprache. Zunächst erinnert er sie daran, dass man damals in Kreta auf ihn hätte hören sollen (27,10).

 

(22-24) Dann aber ruft er sie dazu auf, den Mut nicht zu verlieren und erklärt, dass zwar das Schiff, aber niemand von ihnen verloren gehen wird. Zur Begründung verweist er darauf, dass „in dieser Nacht“ ein „Engel Gottes“ bei ihm war. Er habe ihn dazu aufgerufen, sich nicht zu fürchten, weil er „vor den Kaiser gestellt werden“ muss. Deshalb habe Gott ihm „alle geschenkt“, die mit ihm in diesem Schiff unterwegs sind.

 

„Um Pauli Auftrags willen, der nach dem heilsgeschichtlichen Plan Gottes ‚vor den Kaiser treten muss‘ (vgl. 23,11), erhalten auch die Heiden Anteil an dem ihm gewährten Schutz … Paulus muss vor den Kaiser, nach Rom; deshalb wird er gerettet. Weil es ihn gibt und er gerettet werden muss, werden die übrigen Schiffsinsassen mitgerettet. Dieser Vorgang ist ein Bild für das alte theologische Axiom: ‚Per paucos salvatur genus humanum‘ – durch wenige wird das Menschengeschlecht gerettet! Das Axiom schien schon im Ringen Abrahams (…) um die Rettung Sodoms auf und wurde in nachchristlicher Zeit fortlaufend neu variiert: Die wenigen Gerechten halten die Welt zusammen – um ihrer Willen besteht sie noch.“ (Pesch II, 291.295)

 

(25-26) Weil Paulus darauf vertraut, dass alles so kommen wird wie Gott es ihm gesagt hat, ruft er alle Schiffsinsassen dazu auf, neuen Mut zu fassen. Konkretisierend erklärt er, dass sie „auf irgendeine Insel verschlagen werden“ müssen.

 

 

So geschieht es dann auch.

 

(27) Als aber die vierzehnte Nacht gekommen war und wir im Adriatischen Meer umhertrieben, meinten gegen Mitternacht die Matrosen, dass sich ihnen Land näherte. (28) Und als sie das Senkblei ausgeworfen hatten, fanden sie zwanzig Faden; nachdem sie aber ein wenig weiter gefahren waren und das Senkblei wieder ausgeworfen hatten, fanden sie fünfzehn Faden. (29) Und da sie fürchteten, wir möchten etwa auf felsige Stellen verschlagen werden, warfen sie vom Hinterschiff vier Anker aus und wünschten, dass es Tag würde. (30) Als aber die Matrosen aus dem Schiff zu fliehen suchten und das Boot unter dem Vorwand, als wollten sie vom Vorderschiff Anker auswerfen, in das Meer hinabließen, (31) sprach Paulus zu dem Hauptmann und den Soldaten: Wenn diese nicht im Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden. (32) Dann hieben die Soldaten die Taue des Bootes ab und ließen es hinabfallen.

(33) Als es aber Tag werden wollte, ermahnte Paulus alle, Speise zu sich zu nehmen, und sprach: Heute schon den vierzehnten Tag wartend, seid ihr ohne Essen geblieben, weil ihr nichts zu euch genommen habt. (34) Deshalb ermahne ich euch, Speise zu euch zu nehmen, denn dies gehört zu eurer Rettung; denn keinem von euch wird ein Haar des Hauptes verloren gehen. (35) Und als er dies gesagt und Brot genommen hatte, dankte er Gott vor allen, und als er es gebrochen hatte, begann er zu essen. (36) Alle aber wurden guten Mutes und nahmen auch selbst Speise zu sich.

(37) Wir waren aber in dem Schiff, alle Seelen, zweihundertsechsundsiebzig. (38) Als sie sich aber mit Speise gesättigt hatten, erleichterten sie das Schiff, indem sie den Weizen in das Meer warfen. (39) Als es aber Tag wurde, erkannten sie das Land nicht; sie bemerkten aber eine Bucht, die einen Strand hatte, auf den sie, wenn möglich, das Schiff zu treiben gedachten. (40) Und als sie die Anker gekappt hatten, ließen sie sie im Meer und machten gleichzeitig die Haltetaue der Steuerruder los und hissten das Vordersegel vor den Wind und hielten auf den Strand zu. (41) Da sie aber auf eine Landzunge gerieten, ließen sie das Schiff stranden; und das Vorderschiff saß fest und blieb unbeweglich, das Hinterschiff aber wurde von der Gewalt der Wellen zerschellt. (42) Der Soldaten Plan aber war, die Gefangenen zu töten, damit nicht jemand fortschwimmen und entfliehen möchte. (43) Der Hauptmann aber, der Paulus retten wollte, hinderte sie an ihrem Vorhaben und befahl, dass die, welche schwimmen könnten, sich zuerst hinabwerfen und an Land gehen sollten (44) und die übrigen teils auf Brettern, teils auf Stücken vom Schiff. Und so geschah es, dass alle an das Land gerettet wurden.

 

(27-32) Vierzehn Tage lang treibt das Schiff in der Adria umher (dazu wird damals auch das Meer zwischen Kreta und Sizilien gezählt). Dann aber haben die Matrosen „gegen Mitternacht“ den Eindruck, dass sie sich dem Land nähern – vielleicht weil sie das Tosen einer Brandung hören. Sie werfen das Senkblei aus und stellen fest, dass das Meer unter ihnen immer flacher wird. Daher befürchten sie, mitten in der Nacht gegen dem Land vorgelagerte Klippen zu prallen und werfen „vom Hinterschiff vier Anker“ aus und warten auf das Morgengrauen.

 

Dann aber versuchen die Matrosen die Flucht. „Unter dem Vorwand“ auch am Vorderschiff Anker auswerfen zu wollten, lassen sie das Beiboot zu Wasser. Paulus aber bemerkt ihre Absicht und erklärt „dem Hauptmann und den Soldaten: Wenn diese nicht im Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden.“ Daraufhin kappen die Soldaten die Taue des Beiboots und lassen es hinabfallen. Damit ist gleichzeitig das Schicksal des Schiffes besiegelt. Es gibt keine andere Möglichkeit an Land zu kommen, als es auf den Strand auflaufen zu lassen.

 

(33-36) Als es zu dämmern beginnt, ruft Paulus alle dazu auf, „Speise zu sich zu nehmen“. Er weist darauf hin, dass sie bereits zwei Wochen lang nichts gegessen haben (vgl. 27,21). Das Essen aber, so Paulus, „gehört zu eurer Rettung“. Die „Rettung“ gilt für alle von ihnen. Keinem von ihnen „wird ein Haar des Hauptes verloren gehen“.

 

Daraufhin nimmt Paulus das Brot, dankt Gott dafür, bricht es und isst davon. Das erinnert, bis in die Wortwahl hinein, an die Einsetzungsworte zum Abendmahl: „(23) Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, dass der Herr Jesus in der Nacht, in der er überliefert wurde, Brot nahm (24) und, als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zu meinem Gedächtnis!“ (1.Kor.11,23-24). Dadurch werden alle „guten Mutes“ und nehmen „auch selbst Speise zu sich“.

 

(37-44) Insgesamt befinden sich 266 Menschen auf dem Schiff. Nachdem sich alle gesättigt haben, werfen sie den geladenen Weizen über Bord, damit das Schiff einen möglichst geringen Tiefgang hat. Als es dann richtig Tag ist sehen sie das Land, stellen aber fest, dass es ihnen nicht bekannt ist (Malta liegt abseits der gewöhnlichen Schiffsrouten). Aber sie entdecken eine Bucht mit einem flachen Strand. Sie entscheiden, das Schiff auf diesen Strand treiben zu lassen. Sie kappen die Ankerseile, lösen die Seile von den Steuerrudern und hissen das Vordersegel. So halten sie langsam auf den Strand zu.

 

Dann aber geraten sie auf eine Sandbank bzw. Untiefe. Das Vorderschiff sitzt fest, das Hinterschiff zerbricht unter der „Gewalt der Wellen“. Weil die Soldaten befürchten, dass die Gefangenen in dem nun entstehenden Chaos zu fliehen versuchen und sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden können (vgl. 12,19; 16,27), wollen sie sie töten. Der Hauptmann, dem es vor allem um die Rettung des Paulus geht, aber hindert sie daran und gibt den Befehl, dass zunächst alle, die schwimmen können, über Bord springen und an Land gehen sollen, und die anderen sich mit Hilfe von im Wasser schwimmenden Brettern und Schiffsresten an Land retten sollen. So geschieht es dann auch – und so erfüllt sich die Prophezeiung des Paulus, dass zwar das Schiff verloren geht, aber alle Insassen gerettet werden (27,22-24).

 

 

Die Schiffbrüchigen werden von den Inselbewohnern freundlich aufgenommen und Paulus tut Wunder unter ihnen.

 

(1) Und als wir gerettet waren, da erfuhren wir, dass die Insel Melite heiße. (2) Die Eingeborenen aber erzeigten uns eine nicht gewöhnliche Freundlichkeit, denn sie zündeten ein Feuer an und nahmen uns alle zu sich wegen des eingetretenen Regens und wegen der Kälte. (3) Als aber Paulus eine Menge Reisig zusammenraffte und auf das Feuer legte, kam infolge der Hitze eine Giftschlange heraus und hängte sich an seine Hand. (4) Als aber die Eingeborenen das Tier an seiner Hand hängen sahen, sagten sie zueinander: Jedenfalls ist dieser Mensch ein Mörder, den Dike, obschon er aus dem Meer gerettet ist, nicht leben lässt. (5) Er nun schüttelte das Tier in das Feuer ab und erlitt nichts Schlimmes. (6) Sie aber erwarteten, dass er anschwellen oder plötzlich tot hinfallen werde. Als sie aber lange warteten und sahen, dass ihm nichts Ungewöhnliches geschah, änderten sie ihre Meinung und sagten, er sei ein Gott.

(7) In der Umgebung jenes Ortes aber besaß der Erste der Insel, mit Namen Publius, Ländereien; der nahm uns auf und beherbergte uns drei Tage freundlich. (8) Es geschah aber, dass der Vater des Publius, von Fieber und Ruhr befallen, daniederlag. Zu dem ging Paulus hinein, und als er gebetet hatte, legte er ihm die Hände auf und heilte ihn. (9) Als dies aber geschehen war, kamen auch die übrigen auf der Insel, die Krankheiten hatten, herbei und wurden geheilt; (10) diese erwiesen uns auch viele Ehren, und als wir abfuhren, luden sie uns auf, was uns nötig war.

 
(1-6)
Die Geretteten erfahren, dass sie auf der „Insel Melite gelandet sind, womit Malta gemeint ist. Die „Eingeborenen“ sind außergewöhnlich gastfreundlich. Das „Uns“ des Berichts lässt vermuten, dass sie sich insbesondere um Paulus und seine Begleiter kümmern.

 

Zunächst zünden sie ein Feuer an, damit die Schiffbrüchigen sich trocknen können und vor dem Regen und der Kälte geschützt sind. Als Paulus Brennholz zusammenruft und ins Feuer wirft, hängt plötzlich eine Giftschlange an seiner Hand (hängt sie nur dort oder hat sie sich festgebissen?). Als das die Malteser sehen, halten sie Paulus für einen Mörder – aus dem einfachen Grund, dass Dike, die griechische Göttin der Gerechtigkeit, ihn offenbar trotz seiner Rettung aus dem Meer nicht leben lassen will. Paulus aber schüttelt das Tier einfach ins Feuer ab. Die „Eingeborenen“ erwarten, dass Paulus nun anschwillt und/oder tot umfällt. Als auch nach längerem Warten nichts dergleichen passiert ist, ändern sie ihre Meinung über Paulus. Hatten sie ihn eben noch für einen Mörder gehalten – eine Vermutung, die aufgrund dessen, dass es sich hier um einen Gefangenentransport handelt, nicht abwegig ist – , behaupten sie jetzt, dass Paulus „ein Gott“ ist (an dieser Stelle wird nichts darüber gesagt, dass Paulus diese Aussage zurechtrückt, anders 14,15).

 

(7-10) In der Nähe der Bucht, in der das Schiff gestrandet ist, besitzt „der Erste der Insel … Ländereien“. Dort nimmt er Paulus und seine Begleiter auf und beherbergt sie drei Tage lang. Als sein Vater an „Fieber und Ruhr“ schwer erkrankt, geht Paulus zu ihm, betet, legt ihm die Hände auf und heilt ihn. Infolgedessen kommen alle Kranken der Insel zu Paulus. Auch sie werden geheilt. Daher werden Paulus und seine Mitstreiter geehrt und für ihre Weiterfahrt mit allem versorgt, was sie nötig haben.

 

 

Es folgt die letzte Etappe auf dem Weg nach Rom.

 

(11) Nach drei Monaten aber fuhren wir ab in einem alexandrinischen Schiff mit dem Zeichen der Dioskuren, das auf der Insel überwintert hatte. (12) Und als wir in Syrakus gelandet waren, blieben wir drei Tage. (13) Von dort fuhren wir in einem Bogen und kamen nach Rhegion; und da nach einem Tag sich Südwind erhob, kamen wir den zweiten Tag nach Puteoli, (14) wo wir Brüder fanden und gebeten wurden, sieben Tage bei ihnen zu bleiben; und so kamen wir nach Rom. (15) Und von dort kamen die Brüder, als sie von uns gehört hatten, uns bis Forum-Appii und Tres-Tabernae entgegen; und als Paulus sie sah, dankte er Gott und faßte Mut. (16) Als wir aber nach Rom kamen, wurde dem Paulus erlaubt, mit dem Soldaten, der ihn bewachte, für sich zu bleiben.

 

(11-14) Drei Monate später, als die Schifffahrt nach überstandenem Winter wieder ihre Arbeit aufnimmt (ca. ab Anfang März), fahren sie mit einem Schiff aus Alexandria weiter, das auf Malta überwintert hatte. Als Gallionsfiguren trägt dieses Schiff die „Zeichen der Dioskuren“ – die Zeussöhne Kastor und Pollux, die Schutzgötter der Seefahrer, die damals besonders in Ägypten verehrt werden.

 

Zunächst segeln sie nach Syrakus, der an der Südostküste gelegenen damaligen Hauptstadt Siziliens. Von dort aus geht es nach Rhegion, einer an der „Stiefspitze“ gelegenen Stadt. Nun spielt endlich auch das Wetter mit. Ein von Süden wehender Wind führt sie einen Tag später nach Puteoli (in der Nähe des heutigen Neapel). Dort stoßen sie auf eine christliche Gemeinde, die sie bittet, „sieben Tage bei ihnen zu bleiben“ – was offenbar trotz der Gefangenschaft des Paulus möglich ist.

 

(15-16) Dass Paulus sich Rom nähert, spricht sich schnell herum. Deshalb kommen Mitglieder der dortigen Gemeinde Paulus entgegen. Der Bericht nennt zwei Treffpunkte: Forum-Appii (65 Km vor Rom) und Tres-Tabernae (50 Km vor Rom). Es handelt sich vermutlich nicht um zwei verschiedene Delegationen, sondern um eine „Vorhut“ und das „Hauptfeld“ einer Paulus entgegenreisenden Abordnung der Gemeinde. Als Paulus sie sieht, dankt er Gott und fasst neuen Mut angesichts dessen, das er jetzt nach Rom kommt und nicht weiß, wie das alles für ihn ausgehen wird.

 

Auch in Rom selbst entwickeln sich die Dinge besser als erwartet. Paulus erhält die Erlaubnis, ein Privatquartier zu beziehen. Natürlich ist ein Soldat bei ihm und in 28,20 ist auch von „Ketten“ die Rede. Es handelt sich aber um die „leichteste Form der Untersuchungshaft“ (Pesch II, 303).

 

 

9.9    Gefangenschaft und Wirken des Paulus in Rom (28,17-31)

 

Die Apostelgeschichte endet damit, dass sie das missionarische Wirken des Paulus in Rom schildert. Das hat programmatischen Charakter.

 

 

In Rom angekommen nimmt Paulus Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Rom auf.


(17) Es geschah aber nach drei Tagen, dass er die, welche die Ersten der Juden waren, zusammenrief. Als sie aber zusammengekommen waren, sprach er zu ihnen: Ihr Brüder! Ich, der ich nichts gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche getan habe, bin gefangen aus Jerusalem in die Hände der Römer überliefert worden. (18) Die wollten mich, nachdem sie mich verhört hatten, loslassen, weil keine todeswürdige Schuld an mir war. (19) Als aber die Juden widersprachen, war ich gezwungen, mich auf den Kaiser zu berufen, nicht als hätte ich gegen meine Nation etwas zu klagen. (20) Um dieser Ursache willen nun habe ich euch herbeigerufen, euch zu sehen und zu euch zu reden; denn wegen der Hoffnung Israels trage ich diese Kette. (21) Sie aber sprachen zu ihm: Wir haben über dich weder Briefe von Judäa empfangen, noch ist jemand von den Brüdern hergekommen und hat uns über dich etwas Böses berichtet oder gesagt. (22) Aber wir begehren von dir zu hören, welche Gesinnung du hast; denn von dieser Sekte ist uns bekannt, dass ihr überall widersprochen wird.

 

(17-20) Bereits drei Tage nach seiner Ankunft in Rom ruft er „die Ersten der Juden“ zu sich. Und tatsächlich: Sie kommen. Als sie da sind, erklärt er ihnen, dass er in Jerusalem als Gefangener den Römern „überliefert“ wurde (anders 21,31ff., wo geschildert wird, dass er von den Römern gerettet wird), obwohl er „nichts gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche getan“ hat (vgl. 22,3; 24,14-16; 26,4-5). Die Römer, so Paulus weiter, wollten ihn, nachdem sie ihn verhört hatten eigentlich freilassen, weil sie „keine todeswürdige Schuld“ an ihm gefunden haben (vgl. 25,18-21; 25,25; 26,31). Aber weil „die Juden widersprachen“, sei er gezwungen gewesen, sich „auf den Kaiser zu berufen“ (vgl. 25,20f.; nach 25,9-12 wollte Paulus so verhindern, dass er von den Römern an die Juden ausgeliefert wird). Deshalb, so Paulus abschließend, habe er sie als oberste Vertreter der Juden in Rom „herbeigerufen“. Sie sollen wissen, dass er nicht ihr Feind ist, sondern „wegen der Hoffnung Israels“ – also der Auferstehungshoffnung, die für ihn natürlich untrennbar mit der Auferstehung Jesu verbunden ist (23,6; 24,15; 26,6-8) – gefangen ist.

 

Warum ist es Paulus so wichtig, dies zu betonen? Natürlich versucht er, sie für den christlichen Glauben zu gewinnen (vgl. 28,23ff.). Im Hinblick auf seine Gefangenschaft und den bevorstehenden Prozess ist es aber auch in seinem Interesse, dass die Juden, die über Einfluss am Hof des Kaisers verfügen, nicht hinter den Kulissen gegen ihn agieren.

 

(21-22) „Die Ersten der Juden“ beteuern, dass sie bisher noch keine „Briefe aus Judäa“ erhalten haben, in denen etwas über ihn geschrieben stand. Außerdem sei noch niemand gekommen, um ihnen „etwas Böses“ über ihn zu erzählen. Aber sie sind nicht nur vorurteilsfrei; sie sind sogar an seinen Gedanken interessiert, weil sie von der „Sekte“, zu der Paulus offenbar gehört, bisher nur wissen, „dass ihr überall widersprochen wird“ (gemeint ist wohl: „… überall von Juden widersprochen wird“; der Hinweis in 18,2 über die Vertreibung der Juden aus Rom, weil sie – so der römische Geschichtsschreiber Sueton – „von Chrestus“ aufgehetzt worden waren, legt aber nahe, dass die Juden Roms bereits Bekanntschaft mit dem christlichen Glauben gemacht hatten – wofür auch die Existenz einer christliche Gemeinde spricht, die in 28,15 vorausgesetzt ist).

 

 

Weil die Juden an seinen Gedanken interessiert sind, kommt es zu einem zweiten Treffen, bei dem es um theologische Fragen geht.

 

(23) Als sie ihm aber einen Tag bestimmt hatten, kamen mehrere zu ihm in die Herberge, denen er das Reich Gottes auslegte und bezeugte. Und er suchte sie zu überzeugen von Jesus, sowohl aus dem Gesetz Moses als auch den Propheten, von frühmorgens bis zum Abend. (24) Und einige wurden überzeugt von dem, was gesagt wurde, andere aber glaubten nicht. (25) Als sie aber unter sich uneins waren, gingen sie weg, als Paulus ein Wort sprach: Trefflich hat der Heilige Geist durch Jesaja, den Propheten, zu euren Vätern geredet (26) und gesagt: »Geh hin zu diesem Volk und sprich: Hörend werdet ihr hören und nicht verstehen, und sehend werdet ihr sehen und nicht wahrnehmen. (27) Denn das Herz dieses Volkes ist dick geworden, und mit den Ohren haben sie schwer gehört, und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.« (28) So sei euch nun kund, dass dieses Heil Gottes den Nationen gesandt ist; sie werden auch hören.


(23)
Beim zweiten Treffen legt Paulus den Juden „das Reich Gottes“ aus. Gemeint ist natürlich, dass das Reich Gottes mit Jesus Christus gekommen ist (vgl. 8,12; 19,8; 20,25; 28,31; Lk.17,21: „… Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“). Den ganzen Tag über versucht er, sie von Jesus zu überzeugen, indem er mit dem Gesetz (vgl. 3,22) und den Propheten (vgl. 3,18.21.24; 8,34f.; 10,43) argumentiert.

 

(24-28) Tatsächlich gelingt es ihm, einige von ihnen zu überzeugen. Andere aber glauben ihm nicht. Weil sich nur ein Teil von ihnen dem christlichen Glauben öffnet, erklärt ihnen Paulus mit Hilfe eines Prophetenwortes, dass sie verstockt sind und nicht das Heil empfangen. Er zitiert Jes.6,9-10 nach der Septuaginta (LXX): „(9) Und er sagte: ‚Geh hin und sage diesem Volk: ‚Mit dem Gehör werdet ihr hören und doch gewiss nicht verstehen, und schauend werdet ihr schauen und doch gewiss nicht sehen‘; (10) denn das Herz dieses Volkes verfettete, und mit ihren Ohren hörten sie schwer, und ihre Augen schlossen sie, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und umkehren, auf dass ich sie heilen werde.‘“ (Septuaginta Deutsch). „Paulus hat mit seiner Verkündigung alles getan, um die Juden zum Sehen, Hören und Verstehen zu bringen; sie aber haben Augen, Ohren und Herz vor seiner Botschaft verschlossen. Damit haben sie sich selbst außerhalb des Heils gestellt.“ (Roloff, 374).

 

Abschließend fügt Paulus noch ein eigenes prophetisches Wort hinzu: „So sei euch nun kund, dass dieses Heil Gottes den Nationen gesandt ist; sie werden auch hören.“ „Die Zukunft der heidenchristlichen Kirche ist von Paulus angesagt in einer Prophetie, die als Heilsprophetie der Unheilsprophetie des Jesaja gegenübergestellt ist: Während Israel nicht hören wollte, werden die Heiden hören! Mit der Predigt des Paulus in Rom hat eine neue Epoche der Kirchengeschichte begonnen …“ (Pesch II, 310).

 

Vers 29 findet sich nur in wenigen Handschriften: „Und als er dies gesagt hatte, gingen die Juden weg und hatten viel Wortwechsel untereinander.“

 

 

Der Bericht der Apostelgeschichte endet damit, dass Paulus in Rom – von seiner Wohnung aus – allen, die zu ihm kommen, das Evangelium verkündigt.

 

(30) Er aber blieb zwei ganze Jahre in seiner eigenen Mietwohnung und nahm alle auf, die zu ihm kamen; (31) er predigte das Reich Gottes und lehrte die Dinge, die den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit ungehindert.

 

(30-31) Nachdem endgültig geklärt ist, dass die Botschaft von Jesus Christus vom Judentum abgelehnt wird (nur einzelne Juden kommen zum Glauben an Jesus Christus) und sie deshalb „den Nationen“ gilt, schildern die letzten Verse, dass Paulus auch als Gefangener vom Reich Gottes und seinem Anbruch in Jesus Christus predigt (vgl. 28,23). Ganze zwei Jahre lang ist das möglich – und zwar in Rom, dem Mittelpunkt der Welt, so dass die Erfüllung von 1,8 gewiss ist: „ …und ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“


„Die Begrenzung der römischen Wirksamkeit des Paulus auf zwei Jahre wirft die Frage nach dem ‚Danach‘, dem Prozess und dessen Ausgang, erneut auf. Lukas weiß wohl, dass am Ende das Todesgeschick des Paulus stand (vgl. 20,25.38). Doch übergeht Lukas dieses negative, das Verhältnis der Christen zur römischen Staatsmacht belastende Ereignis und bietet in der Schilderung der Art und Weise der Missionsarbeit des Paulus einen programmatischen Ausblick auf das weitere Wirken der Kirche. Trotz aller Bedrohung können die Christen wie Paulus ‚das Heil Gottes‘ (28), das Wort von der Basileia Gottes, selbst in der Hauptstadt der Basileia des Kaisers ‚mit allem Freimut‘ (…), den Gott schenkt, verkündigen, und zwar, so lange der Staat das loyale Verhalten der Christen wie das des Paulus achtet, ‚ungehindert‘.“ (Pesch II, 311).